Katastrophe, Kassel, 1975
Die Tage verliefen in einem steten und ermüdenden Gleichklang. Morgens richtete sie für die Familie das Frühstück her, ihr Mann ging in die Praxis, das Mädchen zur Schule und Franz Frenzel fuhr ins Behindertenheim, wo er seinen Zivildienst ableistete. Um ihn machte sich Berta Frenzel Sorgen. Der junge Mann hatte sein Abitur gerade so mit großer Mühe geschafft und somit den Unmut seines Vaters auf sich gezogen, außerdem war er unentschlossen, was er studieren wollte. Allgemein war er auch sehr interessenlos, die meiste Zeit hing er nur vor dem Fernseher herum. Während der vergangenen Jahre war ihr aufgefallen, dass er im Gegensatz zu seinen Schulkameraden noch nie eine Freundin gehabt hatte und sich nur in der Clique der Jungs bewegte, sie gab allerdings nichts darauf. Auch als seine Gesten und die Ausdrucksweise immer weibischer wurden schob sie das auf seine zarte Konstitution. Irgendwann würde ihm schon eine über den Weg laufen die ihn interessieren könnte.
Den Tag der Katastrophe sollte sie nie wieder vergessen: es war der 23. Mai 1975 nachmittags, ein Freitag. Die Kinder waren schon wieder zu Hause, ihr Mann noch in der Praxis. Sie sah die Polizeibeamten, die bei ihnen geklingelt hatten, verwundet an, schließlich bat sie die beiden Männer ins Haus.
„Frau Frenzel, uns liegt eine Strafanzeige gegen ihren Sohn Franz Frenzel vor, wir möchten Ihnen und ihm dann später einige Fragen stellen“ begann einer der Männer.
„Ihr Sohn leistet seinen Zivildienst im Behindertenheim der Diakonie, dort soll er sich in der vergangenen Zeit mehrfach an geistig behinderten jungen Männern vergangen haben. Wir haben zwei Aussagen die belegen, dass ihr Sohn sich von einem hat befriedigen lassen und mit dem anderen Analverkehr ausgeübt hat. Können Sie uns etwas zu den Neigungen ihres Sohnes sagen?“
„Wie meinen Sie das, seine Neigungen“ fragte sie unsicher.
„Ganz konkret seine sexuelle Orientierung“ erwiderte einer der Männer.
„Nun, er hat keine Freundin, aber das geht anderen in seinem Alter genauso“ sagte sie.
„Hatten Sie nicht das Gefühl, dass er sich mehr zu Männern hingezogen fühlt“ war die nächste Frage.
„Wieso, er ist immer mit seinen Kumpels zusammen, das dürfte doch mit zwanzig Jahren ganz normal sein.“
„Können Sie bitte ihren Sohn holen?“
Sie stieg die Treppe zu den Kinderzimmern hoch, klopfte an die Tür ihres Sohnes und trat ein. Der Junge lag auf dem Bett und blätterte in einer Zeitung.
„Die Polizei ist da, wenn du mir etwas zu erzählen hast dann tu es jetzt“ sagte sie ausdruckslos.
„Wie meinst du das“ fragte er zurück und sie konnte keine Spur von Verwirrung in seinem Gesicht erkennen.
„Gut, wenn nichts ist können wir runtergehen“ fuhr sie fort.
Franz Frenzel setzte sich mit auf das Sofa, schlug die Beine übereinander, und sah die Polizisten ruhig an.
„Herr Frenzel, Sie werden beschuldigt, sich zwei Behinderten im Heim in eindeutig sexueller Absicht genähert zu haben, was können Sie dazu sagen?“
„Nichts“ sagte der junge Mann „es ist nicht wahr, ich habe niemand belästigt. Wahrscheinlich ist es der Phantasie der beiden entsprungen, haben Sie eine Ahnung, wie sich Behinderte verhalten?“
„Nein“ erwiderte der eine Polizist „davon wissen wir nichts, aber die beiden haben dem Heimleiter gesagt dass Sie mit ihnen Spiele gemacht hätten, bei denen Sie sich ausgezogen und sie angefasst hätten.“
„Warum sollte ich mich vor diesen Leuten ausziehen, können Sie mir das erklären, und was konkret wird mir vorgeworfen“ sagte Franz Frenzel jetzt gereizter.
„Nun, es gibt die Aussage, dass Sie diese Dinge getan haben sollen, wir haben den Auftrag das zu klären und müssen Sie bitten uns zu folgen, den entsprechenden richterlichen Beschluss haben wir mit.“
„Wissen Sie wer mein Mann ist“ warf Berta in der Hoffnung ein, dass alles nur ein schlechter Traum wäre.
„Das wissen wir, Frau Frenzel“ erwiderte einer „aber das entbindet uns nicht von der Pflicht den Anschuldigungen nachzugehen. Ihr Sohn wird verhört und untersucht werden, und wenn sich die Aussagen der Behinderten nicht bewahrheiten, bringen wir ihn schon heute wieder nach Hause zurück. Wir wollen kein großes Aufheben machen, Sie können ihn selbst zum Revier bringen, denn auch wir haben kein Interesse, dass irgendwelche Gerüchte entstehen.“
Berta Frenzel nickte schwach, zusammen mit ihrem Sohn fuhr sie zum Revier. Während der Fahrt fing er an zu heulen und dann tonlos zu erzählen.
„Ja, ich bin schwul Mutter, hast du das nie gemerkt? Weißt du, warum ich den Wehrdienst verweigert habe? Nicht weil ich keine Waffe in die Hand nehmen wollte sondern weil ich es nur unter Männern nicht ausgehalten hätte, verstehst du das? Ich habe es schon vor ein paar Jahren gemerkt dass mich Mädchen nicht interessieren, Männer schon, aber mit wem sollte ich denn reden? Mit Vater, der nie da ist, oder mit dir, wenn du schon davon genervt bist, dass dir der Tag so lang wird? Ich habe versucht das zu unterdrücken, aber die beiden habe ich angefasst weil ich dachte dass die sowie so im Kopf wirr sind und sie davon nichts mitbekommen. Ich werde alles abstreiten, aber jetzt weißt du wenigstens Bescheid.“
Berta Frenzel fühlte etwas zusammen brechen. Zwanzig Jahre hatte sie ihr Kind großgezogen und war nicht in der Lage gewesen zu erkennen, dass ihr Sohn anders war. Sie musste sich auch eingestehen, dass weder sie noch ihr Mann sonderlich viel Zeit für ihre Kinder aufgewendet hatten. Solange sie gute Noten aus der Schule mitbrachten und sonst keinen Ärger machten waren sie eher an sich selbst orientiert, Frieder an seiner Karriere, sie an ihren Seitensprüngen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass Franz sein Abitur nur mit Mühe und Not zustande gebracht hatte, weil er in dieser Zeit wahrscheinlich erkannt hatte, wie es um ihn stand. Noch gab es keinen Grund zur größeren Beunruhigung, und da Frieder seine wöchentliche Vorlesung hielt auch keine Möglichkeit, ihn über den Zwischenfall zu informieren.
Als er nach einundzwanzig Uhr nach Hause kam erzählte sie ihm sofort von der Sache, er griff zum Telefon und sprach mit seinem Anwalt, dann rief er im Revier an und wurde während des Gespräches plötzlich blass.
Die schmale Gestalt baumelte am Fensterkreuz der Zelle. Irgendwie hatte es Franz Frenzel geschafft, aus dem Handtuch und den Bettlaken einen Strick zu drehen, sein Genick war nicht gebrochen, er musste langsam und qualvoll erstickt sein. Franz hatte beim Verhör widersprüchliche Aussagen geliefert, so dass man ihn am nächsten Tag nochmals befragen wollte. Die Beamten hatten aber verabsäumt, ihn wie es vorgeschrieben war, regelmäßig zu beobachten, und erst bei einem Kontrollgang war der Vorfall bekannt geworden. Der Leiter des Untersuchungsgefängnisses kam dadurch in erhebliche Schwierigkeiten, denn ganz klar hatten seine Leute ihre Pflichten grob verletzt.
Das war auch der Punkt, an dem der Anwalt von Frieder Frenzel ansetzte. Er schlug der Anwaltschaft einen Deal vor der in Kern so aussah, dass die Anschuldigungen gegen Franz Frenzel fallen gelassen wurde und die Familie Frenzel im Gegenzug auf eine Untersuchung der Zustände in der Anstalt verzichtete, jegliche Informationen zu diesem Fall sollten streng vertraulich bleiben. Möglich wurde dies nur dadurch, dass Professor Frieder Frenzel hervorragende Kontakte zu wichtigen Männern in der Stadt hatte, so dass er die Sache über seinen Anwalt geräuschlos abwickeln lassen konnte. In der Anstalt war das Vorgefallene nur dem Personal bekannt geworden und die Beamten wurden zum Schweigen verpflichtet. Im Behindertenheim wusste nur der Leiter von den Vorgängen und auch er hatte wenig Interesse ,sich und seine Einrichtung in der Klatschpresse der Stadt wieder zu finden. Auch ihn würde man wegen der Verletzung von Aufsichtspflichten