"Wir schaffen das". Benjamin Webster. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Benjamin Webster
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097009
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aber das rasseln nicht. Wie Renate von dem Flaschen sammeln zurückkam, merkte sie sofort, dass mit Wolfgang etwas nicht stimmte. Das rasseln der Lunge und das Fieber veranlasste sie, sofort ihren Arzt anzurufen, der auch wenig später kam. Seine Diagnose wahr eindeutig, Lungenentzündung. Wolfgang musste sofort ins Krankenhaus. Obwohl er das nicht wollte, setzte sich Renate durch. Und so kam es, dass Wolfgang Weihnachten im Krankenhaus verbringen musste. Erst kurz vor Sylvester wurde er wieder entlassen. Mit dem Bus fuhr er nach Hause, wo ihn schon Renate erwartete. Sie war natürlich heilfroh, dass ihr Göttergatte wieder gesund war. Extra für ihn hatte sie die Heizung auf stattliche 22° hochgedreht. Wolfgang: „Bin ich froh, dass ich das Krankenhaus nicht mehr sehen muss, überall riecht es nach Desinfektionsmittel. Aber das Schlimmste war das Essen. Grauenhaft, Renate. Von wegen Weihnachtsganz, Haferschleim und Süppchen hat es über die Feiertage gegeben. Und dafür muss ich jetzt noch 10.- Euro pro Tag selbst bezahlen. Es tut mir leid, dass ich mit 120.- Euro ein Loch in unsere Kasse reiße, dafür gehe ich morgen gleich wieder Flaschen sammeln.“ Renate nahm ihren Mann in den Arm und sagte leise: „Das ist lieb von dir, aber nicht nötig. Du wirst erst einmal ganz gesund. Dieses Jahr gehst du mir nicht mehr auf die Strasse und wenn, dann nur wenn du dich sehr warm anziehst. War das Essen wirklich so scheußlich?“ Wolfgang: „Scheußlich wäre noch geprahlt. Aber das liegt auch wahrscheinlich daran, dass du so gut kochst.“ Sie führte ihn zur Couch, die sie schon für ihn gerichtet hatte. Renate: „Setz dich erst einmal hin, denn ich habe noch eine Überraschung für dich.“ Sie lief zum Wohnzimmerschrank und holte etwas aus einer Schublade und streckte es Wolfgang hin. Renate: „Ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk für dich.“ Wolfgang: „Du beschämst mich, denn ich habe nichts für dich.“ Renate: „Das du wieder hier bist und mich nicht alleine gelassen hast, ist Geschenk genug. Verlasse mich ja nicht, hörst du? Ich würde noch gerne einige Jahre mit dir verbringen, wenn es geht, sehr viele. Und wenn wir sterben, dann nur zusammen. Uns gibt es nur im Doppelpack.“ Wolfgangs Augen waren feucht. Er nahm Renate in den Arm und gab ihr einen Kuss. Dann meinte er: „Nur im Doppelpack, meine Liebe. Aber bis dahin ist noch viel Zeit.“ Er nahm den weihnachtlichen Umschlag und öffnete ihn. Darin lagen verschiedene Geldscheine. Er dachte er sieht nicht Recht und fragte ungläubig: „Wo haste den die her? Das sind doch mindestens 100.- Euro.“ Renate: „145.- Euro, um genau zu sein. Während du im Krankenhaus warst, habe ich Doppelschichten, bei den Stadien und an den Kirchen gemacht.“ Wolfgang: „Du hast an den Kirchen Flaschen gesammelt? Da gibt es doch so gut wie keine.“ Renate: „Nicht gesammelt, sondern gebettelt.“ Wolfgang: „Wir hatten doch ausgemacht, betteln ist tabu.“ Renate: „Mein lieber Schatz, ich würde noch ganz andere Dinge tun, um nicht hungern oder frieren zu müssen. Was ist schon dabei, wenn ich jemanden um einen oder zwei Euro Bitte, damit wir über die Runden kommen. Schau uns doch an, wie weit wir es gebracht haben. Ein Leben lang gearbeitet und was ist der Dank dafür? Hartz IV, zum leben zu wenig und zum sterben zu viel. Die Herren da oben machen es sich einfach, sie beschließen irgendeinen Mist und wir müssen es ausbaden. Denen ist es doch egal wie lange du den Staat mitfinanziert hast, wenn du alt bist und nicht mehr kannst, dann schieben sie dich in die Ecke. Wo bleibt denn da die Menschenwürde? Nein Wolfgang, uns hilft keiner, wenn wir es nicht selbst tun. Und ich werde in Zukunft wieder betteln, soll die feine Gesellschaft doch sehen, was sie mit ihren schwachsinnigen Gesetzen angerichtet haben. Sie sollen alle merken, was die Politik angerichtet hat.“Wolfgang sah sie entsetzt an und antwortete: „Aber Renatchen, seid wann bist du unter die Revoluzzer gegangen? So kenne ich dich überhaupt nicht.“ Ihre Antwort kam postwendend: „Seid dem du im Krankenhaus warst. Ich habe mir bei den Behörden und der Krankenkasse die Hacken wund gelaufen, um zu versuchen, dass wir die Zuzahlung für das Krankenhaus nicht bezahlen müssen. Aber die Herren waren auf diesem Ohr alle taub. Die haben doch glatt gemeint, wenn du nicht zu Hause bist, bräuchten wir weniger Strom, weniger Essen, Heizung und andere Sachen. Und wenn ich das ersparte zusammen reche, dann wäre das Geld wieder locker drin. Du glaubst nicht, was für ein Hals ich hatte, als ich das gehört habe. Und da habe ich beschlossen, betteln zu gehen, um so einen kleinen Ausgleich für unsere Demütigung zu bekommen. Eine Schande ist das, wie man mit uns umgeht.“ Renate war jetzt in Rage. Wolfgang kannte sie und versuchte sie zu beruhigen: „Ist ja gut, meine Liebe, ist ja gut. Dann gehen wir neben dem Flaschensammeln, eben noch betteln. Aber bitte nicht in unserem Viertel, es muss ja nicht jeder mitbekommen.“ Er nahm sie in den Arm und tröstete sie. Nach fünf Minuten antwortete sie: „Natürlich nicht hier im Viertel, die haben doch auch kein Geld. Möchtest du nicht wissen was es zu essen gibt?“ Wolfgang: „Lass mich überlegen. Eintopf oder Pellkartoffeln?“ Renate: „Nein, mein Schatz, es gibt heute das Weihnachtsmenü.“ Wolfgang: „Ja, hast du dir das nicht schon zu Weihnachten gemacht?“ Renate: „Ohne dich? Ich dachte, wenn du wieder zu Hause bist, dann schmeckt der Schweinebraten doppelt so gut. Was ist denn das für ein Lärm da draußen?“ Wolfgang stand auf und lief zum Fenster. Dort sah er wie Herr Lehmann von gegenüber wild gestikulierend, sich mit den drei Obdachlosen angelegt hatte. Sie verstanden nur Wortfetzen, wie: „Faules Pack, geht arbeiten, dann könnt ihr euch auch eine Wohnung leisten.“ Oder: „Alles verlottert, beim Adolf hätte es das nicht gegeben. Bei uns fehlt es eben an Zucht und Ordnung.“ Renate stand nun neben ihm und beide schüttelten abwechselnd mit ihren Köpfen. Wolfgang meinte zum Schluss: „Dieser Beamtenarsch. Der hat jahrelang nur in der Verwaltung gesessen, Bleistifte gespitzt und Bescheide verschickt. Jetzt macht er einen auf Blockwart.“ Renate: „Und dafür bekommt er auch noch eine dicke Rente.“ Wolfgang: „Pension, meine Liebe. Das gemeine Volk bekommt Rente und die Herren Beamten bekommen Pension. Wenn wir genauso lange in einer Firma gearbeitet hätten, wie die in ihrem Amt, dann bekämen wir trotzdem, weniger Rente wie ein Beamter.“ Renate: „Augen auf, bei der Berufswahl. Was ich nicht verstehe, warum müssen alle die beim Staat in der Verwaltung arbeiten, Beamte sein? Oder Lehrer?“ Wolfgang: „Damit alles reibungslos funktioniert. Bedenke, die müssen immer arbeiten und dürfen nicht streiken.“ Renate: „Das machen Angestellte bestimmt auch, da braucht man keine Beamte. Zahlen keinen Cent in die Rentenkasse ein und kassieren die fette Pension. Wo bleibt da die soziale Gerechtigkeit? Und du legst dich noch ein wenig hin und ich bereite derweil das Festtagsmenü zu.“ Wolfgang: „Kommt gar nicht in Frage. Ich bin über eine Woche im Bett gelegen, es wird Zeit, dass ich wieder etwas tue. Ich helfe dir in der Küche und keine Widerrede.“ Renate: „Wenn du meinst du schaffst das, meinetwegen. Aber nicht das du mir beim Essen vor Erschöpfung einschläfst.“ Wolfgang: „Keine Angst, der Hunger hält mich wach.“

      Gegenüber in der Nummer 71 war wieder Ruhe eingekehrt. Die drei „Berber“, wie das Volk Obdachlose nennt, packten sich in ihre Schlafsäcke. Sie unterhielten sich noch ein wenig, bevor sie einschliefen. Keine zwei Stunden später wurden sie unsanft geweckt. Zwei Polizeibeamte standen vor ihnen und einer meinte: „Guten Abend meine Herren, allgemeine Personenkontrolle. Wenn ich um ihre Ausweise bitten dürfte.“ Einer nach dem anderen schälte sich aus seinem Schlafsack und kramte in den Taschen nach dem Personalausweis. Einer der drei fragte: „Warum werden wir kontrolliert, wir haben niemanden etwas getan?“ Ein Beamter sammelte die Ausweise ein und ging zum Streifenwagen, der andere antwortete: „Ein Mieter im Haus hat sich darüber beschwert, dass sie ohne Genehmigung, hier im Hausflur nächtigen. Deshalb müssen wir sie auffordern, den Hausflur zu verlassen. Kommen sie der Aufforderung nicht nach, müssen sie mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch rechnen. Also meine Herren, wenn ich sie nun bitten dürfte, den Hausflur zu verlassen.“ Frank, so hieß einer der Obdachlosen, fragte den Beamten: „Und wo sollen wir jetzt hin? Wir finden doch um diese Uhrzeit keinen Schlafplatz mehr. Morgen früh räumen wir geräuschlos das Feld, versprochen. Und wenn das nicht geht, werden sie mich wohl für eine Nacht in die Ausnüchterung sperren müssen.“ Der andere Beamte kam zurück und gab die Ausweise zurück. Es lag nichts gegen die drei vor. Der erste Polizist meinte: „Ich kann sie nicht auf die Wache mitnehmen, dass wissen sie ganz genau, wir sind schließlich kein Obdachlosenheim. Probieren sie es in der Gerberstrasse, das ist doch gleich um die Ecke. Fragen sie Herrn Seibold, vielleicht hat der noch etwas frei. Bitte räumen sie die Hofeinfahrt, sonst bekommen sie nur Ärger. Wir kommen in einer Stunde wieder vorbei und überprüfen das.“ Frank: „Bei Seibold waren wir schon, der hatte aber kein Bett mehr frei. Genauso