Andreas lief zum See. Schweigend stand er auf dem Steg. Der gestrige Tag war nun wieder da. Er hatte ihn so gut verdrängt. Sie hatten ihn, in ihm wieder in Erinnerung gerufen. Die Bilder liefen vor seinem geistigen Auge ab. Als sie weggerannt waren hatte er nur gedacht, hoffentlich geht es schnell wenn sie mich kriegen. Über kurze Phasen hatte er schon mit seinem Leben abgeschlossen. Und – er hatte wahrscheinlich einen Menschen erschossen.
Er schaute hinüber in den Wald. Wie oft waren er und Sophie früher dorthin geschwommen. Sie hatten dann immer ein Lager gebaut. Manchmal waren sie sogar mit Vater dort Zelten. Es waren schöne Zeiten gewesen, sie hatten sich um nichts gesorgt und einfach ihr Leben genossen.
Jetzt war erst ein halbes Jahr vorüber. Wie sollte er das noch dreieinhalb aushalten? Er hatte das Gefühl, dass die Lage dort unten sich von Tag zu Tag zuspitzte und das bereitete ihm Sorgen. Er setzte sich auf den Steg. Die frische Luft tat ihm gut. Vor allem war es hier eine andere Luft als in Syrien – klarer – nicht so stickig und warm. Er liebte Winterluft. Plötzlich verspürte er den starken Wunsch, hier bleiben zu können.
Nach einer halben Stunde wurde es kalt und er ging zurück zum Haus. Der Salon war nun leer. Er schaute in die Bibliothek. Sein Vater saß im Rollstuhl und las. Ohne sich umzudrehen sagte er: „Na mein Sohn, hat dir die frische Luft gut getan?“ „Ja Vater, hat sie. Wo sind die Anderen?“ „Marianne und Kerstin sind in der Küche und Felix wollte mit Martin eine Runde spazieren gehen.“ Da öffnete sich die Tür zur Bibliothek. „Ah, das trifft sich gut mein Junge, dass du auch gerade da bist. Es tut mir leid, ich bin gerade zu weit gegangen. Weil ich solche Sorge um dich habe und über die ganze Situation so wütend bin, projiziere ich nun auch noch meine Wut auf dich, wo du doch gar nichts dafür kannst“, erklärte seine Mutter nun entschuldigend. „Ist schon in Ordnung Mutter. Ich würde mich auch lieber um die Familienplanung kümmern, das kannst du mir glauben.“ „Ich weiß mein Junge, ich weiß“, sagte Marianne und tätschelte ihm verständnisvoll den Arm. „Am liebsten würde ich nicht mehr zurück“, verlieh Andreas nun zum ersten Mal seinen Gefühlen Ausdruck. „Wisst ihr, ich hab kein gutes Gefühl dort! Wirklich!“ Sein Vater kam angerollt. „Ich weiß! Ich würde dir das so gerne abnehmen mein Sohn!“, sagte er traurig. „Mir ist die Lage dort unten durchaus bekannt. Ich kriege die Meldungen jeden Tag mit im Büro. Und es spitzt sich zu, das wirst du auch schon gemerkt haben!“ „Ja, ich habe es bemerkt. Deswegen wünsche ich mir, dass wir während meines Urlaubs hier, nicht mehr davon sprechen. Ich muss noch früh genug dorthin zurück“, bat nun Andreas. „Einverstanden“, sagten nun seine Eltern gleichzeitig.
Seine Mutter ging auf ihn zu und strich ihm liebevoll über den Arm „Was möchtest du heute Abend essen?“, fragte sie. „Ich hab keinen besonderen Wunsch Mutter. Ich freu mich über Alles!“, gab er ihr zur Antwort. „Ich habe heute Abend nach dem Essen eine kleine Romme-Runde. Du bist doch auch da, oder?“, fragte sie ihn nun. „Nein Mutter, nach dem Abendessen werde ich nicht da sein!“, erklärte Andreas nun kurz. Enttäuscht fragte seine Mutter: „Du willst zu ihr? Zu Susanne?“ „Ja!“, gab er zu. „Sie wird dich mir wegnehmen!“, sagte sie leise. „Was?“, fragte Andreas nun erschüttert. „Ja sie wird dich mir wegnehmen – entweder dieser Krieg – oder sie“, erwiderte seine Mutter matt. „Unsinn, du weißt, du wirst immer meine Mutter bleiben! Außerdem wenn du Oma werden willst, wird es sich nicht verhindern lassen, dass ich flügge werde“, sagte er nun und legte den Arm um ihre Schulter. „Du hast ja Recht Andreas. Aber es fällt mir so schwer dich loszulassen und ich bin einfach durcheinander. Ich liebe dich mein Sohn!“ „Ich weiß! Ich liebe euch auch, beide! Bitte vergesst das nie!“
Nach dem Abendessen machte Andreas sich auf den Weg nach München.
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Susanne war heute zu ihrem fünften Gerichtstermin. Sie hatten den Prozess gewonnen und ihr Senior-Chef war bester Laune. „Sie denken an das Essen heute Abend mit unserem neuen Großklienten, Frau Weber? Ich möchte, dass er sie gleich kennenlernt, weil sie ihn in Zukunft betreuen werden“ wies er sie hin. „Mein Sohn wird heute Abend auch zugegen sein. Der Tisch ist auf neunzehn Uhr im Ratskeller reserviert.“ „Ja ich weiß, ich werde pünktlich sein“, erwiderte Susanne.
Es blieben ihr nur noch zwei Stunden. Daheim angekommen, kochte sie zuerst etwas für Mia und Stefan, der heute mal wieder den Babysitter gab. Was würde sie nur ohne ihren großen Bruder machen? Dann schaute sie Mias Hausaufgaben durch und verschwand anschließend in die Dusche. Ein wenig später klingelte es. Susanne öffnete die Tür und ihr Bruder spazierte herein. „Hast du nicht einen Schlüssel?“, fragte sie ihn. „Ja schon, aber wenn du da bist kann ich doch klingeln, oder?“, konterte er. „Onkel Stefan!!!“, rennend kam Mia auf ihn zu, „Ich habe ein neues Spiel – das müssen wir unbedingt ausprobieren. Und Mama hat gekocht für uns beide.“ Wieder mal sprach sie ohne Punkt und Komma. Susanne kam in die Küche gelaufen. Sie hatte ihren blauen Hosenanzug, eine weiße Bluse und High Heels an. „Na, wie sehe ich aus? Kann ich so gehen?“, fragte sie die beiden. „Mami du siehst wunderhübsch aus!!!“, sagte Mia aufgeregt. „Ja, dem kann ich nur beipflichten Schwesterlein. Alle Achtung. Wenn der Klient da nicht zusagt!“, gab nun auch Stefan aufrichtig zu. „Overdressed?“, fragte sie ihn. „Nein, genau richtig!“ Susanne sah auf die Uhr. „Ich muss los! Bitte sei brav und hör auf Onkel Stefan, Mia! Wenn irgendetwas ist, dann ruf mich an Stefan ja?“ „Ja, aber wir kommen schon klar Sanne – ist ja nicht das erste Mal!“ „Tschüss!“, mit diesen Worten verließ sie die Wohnung.
Stefan und Mia machten sich jetzt ans Essen. Da klingelte es. Mia sprang schon Richtung Türe. „Warte Mia, wir wissen nicht wer das ist, lass mich zu Tür!“, bremste sie ihr Onkel. „Aber vielleicht hat Mami was vergessen!“ „Du wartest!“, mahnte ihr Pate. „Okay!“, antwortete sie beleidigt.
Stefan öffnete. Und da stand er – dieser Andreas. Susanne hatte ihm, Stefan, alles anvertraut. Eigentlich sollte er doch in Syrien sein. Komisch. „Hallo Andreas!“ „Hallo! Stefan, richtig?“ Stefan nickte. „Sie ist nicht da, oder?“ „Nein. Aber komm doch rein!“, mit diesen Worten ging er einen Schritt zurück, machte ein einladende Geste und Andreas trat ein. „DOC!!!!“, diese Stimme kannte Andreas. Mia! Irgendwie freute er sich sie zu sehen. Sie rannte auf ihn zu und sprang hoch. Er konnte sie gerade noch auffangen. „Mia, lass doch Andreas erst mal reinkommen und seine Jacke ausziehen“, mahnte Stefan. „Komm mit in die Küche wir essen gerade. Möchtest du auch was?“, plapperte sie ohne auf ihren Paten zu hören. „Danke! Ich hab schon gegessen. Esst ihr nur!“ „Wann kommt Susanne denn wieder?“, fragte Andreas Stefan. „Du hast sie nur knapp verpasst. Sie ist zu einem Geschäftsessen. Ich erwarte sie nicht vor elf. Entweder du musst mit uns beiden hier vorlieb nehmen, oder du kommst einfach wieder“, erklärte Stefan scherzhaft. „Nein, ich bleibe natürlich gerne bei euch beiden, wenn es euch nicht stört.“ „Nicht die Bohne! Dann kannst du mit uns, mein neues Spiel spielen Doc“, freute sich Mia. Und so spielten sie nach dem Abendessen noch fast zwei Stunden Mias neues Spiel, was sich als gar nicht so einfach entpuppte. Komischerweise, gewann Mia jedes Mal. Um zehn brachte Stefan sie dann ins Bett. Danach unterhielten er und Andreas sich ziemlich angeregt. Sie verstanden sich sofort. So erfuhr Andreas, dass Stefan seinen Beruf als Polizist sehr gerne ausübte, auch wenn die derzeitige Lage, das nicht immer leicht machte.
Stefan dachte bei sich – dass seine Schwester gar nicht mal einen so schlechten Geschmack hatte. Aber zugeben durfte er das als Bruder natürlich nicht. Da war erst Mal keiner gut genug – wobei Andreas dem wirklich sehr nahe kam. Er kannte auch andere Ärzte, aber diese waren nur selten so bodenständig wie Andreas. Bei diesen Göttern in Weiß wehte einem eher Arroganz