Leicht schwankend erhob sich der Mann, nahm Kurs auf den Kühlschrank und schnappte sich ein weiteres Bier.
„Kannst deine Schwester holen“ teilte er Rüdiger mit schon unsicherer Aussprache mit, dann ging er daran, das Abendessen vorzubereiten.
Frieder Bergmann sah seinen Beitrag zur Hausarbeit vor allem darin, sich etwas in der Küche nützlich zu machen und den Tisch zu decken. Womöglich hatte er in dieser Beziehung die Gene seiner Mutter mitbekommen, denn er legte großen Wert darauf, Geschirr, Besteck und die Nahrungsmittel stets akkurat anzuordnen und ertappte sich manchmal dabei, dass er überprüfte, ob alles genau im richtigen Winkel zueinander angeordnet war. Auch in den Schränken herrschte penible Ordnung und so akribisch, wie er seiner beruflichen Tätigkeit nachging, agierte er sonst in der Küche. Als er die Teller aus dem Schrank nehmen wollte kam er in eine leichte körperliche Schieflage, die er mit den Armen wedelnd wieder überwinden konnte, aber der Versuch, den Griff der Schranktür zu erwischen, gelang nicht. Um sicherer zu werden nahm er noch einen weiteren Schluck Bier, dann startete er leicht vor sich hin kichernd einen zweiten Anlauf und konnte die Tür öffnen. Der Tellerstapel befand sich gut zehn Zentimeter über seinem Kopf und er wollte drei von ihnen mit einem Mal packen, verschätzte sich allerdings und fuhr mit seiner Hand unabsichtlich hinter den Stapel. Er schwankte bereits beträchtlich und auf unsicheren Beinen ruckte er plötzlich nach hinten weg, halt suchend wollte er sich an dem Tellerstapel festklammern, der aber aufgrund seines geringen Gewichtes kein echter Anker war, so dass er diesen jetzt mit Kraft aus dem Schrank herauszog.
Frieder Bergmann ahnte, dass an diesem Tag einiges schief lief, aber er konnte den Gang der Dinge nicht mehr aufhalten. Wie in Zeitlupe sah er (zwar durch die Wirkung des Alkohols schon etwas getrübt) wie sich der Tellerstapel auf die Kante des Schrankes zu bewegte und seine Hand ihn ungebremst immer mehr in diese Richtung beförderte. Als der Stapel mehr als zur Hälfte in der Luft hing ging die bisherige horizontale Bewegung ruckartig in eine vertikale über und das Geschirr stürzte auf den Boden, wo es krachend in unzählige, ungleichförmig große Stücke zerbarst. Seines Halts beraubt driftete Frieder Bergmann vom Schrank weg, und da er zu koordinierten Bewegungen nicht mehr richtig in der Lage war, versuchte er irgendwo zum Stillstand zu kommen, sein linker Arm schnellte hoch und seine Hand als Enterhaken benutzend krallte er sich an einem Gegenstand fest der an der Wand hing. Ein durchdringendes Klirren ließ den Schluss zu, dass er bei dieser Aktion ein Bild erwischt haben musste. Schließlich knallte er auf einen Stuhl, der durch den heftigen Anprall zusammen mit ihm umkippte.
Durch den Krach aus der Küche alarmiert stürmten Rüdiger und Claudia herbei, und fanden ihren Vater inmitten einer Masse von Scherben und Glassplittern auf dem Rücken liegend dort vor. Frieder Bergmann versuchte wie eine hilflose Schildkröte wieder auf die Beine zu kommen, als er sich mit den Händen auf den mit Trümmerstücken bedecktem Boden der Küche dazu abstützte schnitt eine Porzellanscherbe in seine linke, ein Glassplitter in seine rechte Hand, aber das bemerkte er aufgrund seiner Benommenheit nicht. Wieder auf den Beinen und wie ein Rohr im Wind schwankend starrte er seine Kinder mit wirrem Blick an, um dann auf einem noch stehenden Stuhl zusammen zu sacken, und ihnen hilflos die Hände hinzuhalten. Claudia erbleichte, Rüdiger nahm ein Geschirrhandtuch und zog die Scherben heraus. Das Blut aus den Schnittwunden lief jetzt ungehemmt über die Hände von Frieder Bergmann und er wischte die Hände unbedacht an seiner Haus Hose ab. Sofort nahm das ockerfarbene Kleidungsstück die Flüssigkeit auf und erinnerte jetzt an irgendeine Camouflage Kampfanzugausführung eines Soldaten, die sich in der Wüste wohl gut machen würde. Rüdiger hatte indessen zwei Pflaster zugeschnitten und klebte sie jetzt auf den Handflächen seines Vaters fest. Dann sagte er zu seiner Schwester:
„Los, hilf mir, wir bringen ihn ins Bett.“
Sie packten den Mann unter den Achseln und wuchteten ihn hoch, der unsichere Gang ihres Vaters zwang sie aber immer wieder, ihn mal auf der einen, dann auf der anderen Seite mehr zu stützen. Wie ein nasser Sack kippte Frieder Bergmann auf sein Bett und war innerhalb einer Minute eingeschlafen, seine Kinder gingen in die Küche, um dort aufzuräumen.
Der nächste Tag
Frieder Bergmann wurde mit rasenden Kopfschmerzen munter, ein schneller Blick auf den Wecker zeigte ihm, dass es 2 Uhr 38 war, weit vor seiner Aufstehens Zeit. Seine Frau lag tief schlafend neben ihm und leise, um sie nicht zu wecken, schlich er ins Bad, denn das Bier drückte auf seine Blase. Als er sich erleichtert hatte schaute er in den Spiegel, unübersehbar prangte ein riesiges Horn auf seiner Stirn, welches bereits ein buntes Farbspiel zwischen grün, blau und gelb zeigte. Erschrocken tastete er das Gebilde ab und zuckte zusammen, die Schnittwunden an seinen Händen meldeten sich und als er sich die Handoberflächen besah konnte er ebenfalls vielfarbig verfärbte Stellen sehen (nämlich dort, wo ihn die Motorhaube mehrfach getroffen hatte). Panisch versuchte er seine Gedanken zu ordnen, heute sollte er vor den Abteilungsleitern der Behörde ein Referat über die neueste Verordnung zur Altkleiderentsorgung halten. Unsicher fühlte er sich keineswegs, denn er konnte die Paragraphen aus dem Gedächtnis herunterschnurren und als er den Text gedanklich noch einmal repetierte durchfuhr es ihn siedend heiß. „Wer Altkleider aus den dazu bestimmten Sammelbehältern unbefugt entnimmt kann mit einer Geldstrafe von bis zu 5.000 Euro belangt werden.“ Verdammter Mist, vage erinnerte er sich an das Polizeiauto, welches in der Nähe des Containers geparkt hatte und dessen Insassen sein Treiben offensichtlich genau verfolgt hatten. Später war er auch noch fotografiert worden, was wäre, wenn die Bullen genau in seinen Vortrag hineinplatzen würden, um ihn dann vor der staunenden Zuhörerschaft zu verhaften. In fast 15 Jahren hatte er sich einen Ruf als engagierter, kompetenter und vor allem absolut korrekter Angestellter erworben, heute könnte alles wie eine Seifenblase zerplatzen. Unruhig bewegte er sich in die Küche um einen kräftigen Schluck Mineralwasser (mit viel Kohlensäure) zu trinken, dann kehrte er ins Bett zurück, wo ihn seine Frau besorgt ansah.
„Was war bloß gestern mit dir los“ fragte sie vorwurfsvoll „die Kinder haben mir von dem Chaos erzählt, das du angerichtet hattest.“
Stockend berichtete Frieder von den Ereignissen des Vortages, die Sache mit dem Kleidercontainer ließ er aber weg. Seine Frau legte Verständnis in ihre Stimme und riet ihm:
„Schlaf’ noch ein bisschen, in ein paar Stunden musst du fit sein. Und ich instruiere Rüdiger wegen dem Auto noch mal. Die Sache mit deiner Mutter bereden wir heute Abend.“
Schlaflos wälzte sich Frieder Bergmann hin und her, er würde seine Blessuren erklären müssen und auch bei dem Gedanken an den Vortrag fühlte er sich unwohl. Er, ja er selbst, hatte eindeutig gegen die Bestimmungen der Verordnung verstoßen und da sollte er den anderen zureden, diese einzuhalten. Wie gerädert stand er auf, versuchte die Farbenpracht der Beule etwas mit Puder seiner Frau zu entschärfen, zog seinen besten Anzug an und verließ das Haus ohne Frühstück, Appetit hatte er gar nicht verspürt. Da er sonst früh immer ordentlich aß verspürte er ein flaues Gefühl im Magen, das mit viel Kohlensäure versetzte Mineralwasser grummelte in seinem Magen und wie Vorboten auf das, was noch kommen könnte, stiegen leichte Rülpser auf, die er auf dem Weg zur Bahn nicht unterdrückte, weil niemand in seiner Nähe war. Die Verletzungen wollte er mit einem Fahrradunfall erklären, das geschah doch aller Nase lang irgendjemand.
Der Raum war bereits gut gefüllt als er ihn betrat, der Amtsleiter kam schnell auf ihn zu, musterte seine Beule auffällig und nahm ihn zur Seite:
„Herr Bergmann, kleine Planänderung. Sie tragen vor, danach wird ein Herr von der Kripo referieren, er will die unmöglichsten Fälle des Missbrauchs der Container beschreiben, da sind Sachen dabei, die kaum zu fassen sind. Wie zum Beispiel einer was rausholen wollte und dann festklemmte, köstlich.“
Lachend entfernte sich der Mann, heute würde die von der Sache her trockene Veranstaltung etwas Pep bekommen und nicht ganz so langweilig wie üblich verlaufen. Er sollte Recht behalten.
Frieder Bergmann trat mit weichen Knien hinter das Rednerpult, so richtig gut fühlte er sich heute nicht, denn ohne Frühstück auf Arbeit zu gehen war ihm noch nie passiert. Er versuchte die leichte Übelkeit weg zu husten aber erreichte mit dieser Aktion,