Familienurlaub könnte so schön sein, wenn bloß Mutter nicht mit dabei wäre… Band 1. Jörn Kolder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörn Kolder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844269949
Скачать книгу
schuld) und die verklebten Haare standen auf seinem Kopf wirr durcheinander. Die flackernden Augen erinnerten ihn daran was in der letzten halben Stunde passiert war. Gott sei Dank, jetzt geht es nach Hause dachte er sich, da fiel ihm ein, dass er sich in dieser Hose nicht dorthin trauen konnte. Mit schwachen Beinen kam er aus dem Sitz hoch und durchstreifte die Müllkippe auf der Suche nach etwas Brauchbarem, erfolglos. Plötzlich erinnerte er sich daran, dass zwei Kreuzungen weiter weg ein Sammelcontainer für Altkleider stand und fuhr dorthin. Misstrauisch beobachtete er die Gegend, um diese Zeit (jetzt, bereits nach 19 Uhr) war keine Menschenseele mehr zu sehen und entschlossen bewegte er sich auf den Container zu.

      Er stand das erste Mal vor so einem Behälter, ansonsten entsorgte seine Frau immer die abgetragene Kleidung. Der Mechanismus der Klappe war so ausgelegt, dass man zwar etwas hineinbefördern, aber kaum herausholen konnte. Trotzdem zwängte Bergmann seine Hand hinein und nach einigen Versuchen bekam er etwas in die Hand, er zog kräftig und bekam eine Hose durch die Klappe bugsiert. Mit seiner Beute versteckte er sich schnell hinter dem Container und begutachtete das Kleidungsstück. Die Hose war gar nicht einmal von schlechter Qualität, bloß ihr Schnitt und das Muster wirkte befremdlich. Wo hatte er so etwas denn schon einmal gesehen? Er zermarterte sein Gehirn, dann wusste er es. Kürzlich hatte er sich eine Reportage über Afghanistan angesehen, die Männer dort trugen solche ausladenden Beinkleider, die durchaus bequem aussahen. Da er am heutigen Tag an seinem Glück zweifelte beließ er es bei diesem einen Versuch und in der Deckung des Containers zog er seine Hose aus, als er nur in der Unterhose dastand nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass sich ein Polizeiauto langsam aus der Straße entfernte. Hektisch streifte er die Hose aus dem Container über und war dann mit einem Satz in seinem Auto, mit aufheulendem Motor entfernte er sich schnell vom Containerstandplatz.

      Gut drei Kilometer lagen noch vor ihm, erleichtert, dem ganzen Schlamassel entkommen zu sein, pfiff er vor sich hin. Da ihm die Frontscheibe schmutzig erschien und einige Insekten darauf klebten betätigte er den Hebel um Wasser darauf zu spritzen und staunte, dass die Flüssigkeit braun und schlierig war, der Scheibenwischer verschmierte sie noch mehr und er sah kaum noch etwas. So entging ihm auch, dass die Ampel an der nächsten Kreuzung auf Rot stand und er rollte einfach darüber hinweg, wütendes Hupen verfolgte ihn und er trat erschrocken auf die Bremse. Nichts geschah, das Auto rollte weiter und obwohl er seinen Fuß auf das Pedal hämmerte verringerte sich die Geschwindigkeit nicht, verzweifelt schaltete er die Zündung aus und erreichte damit, dass die Servolenkung jetzt auch nicht mehr arbeitete. Wie ein Matrose auf einem alten Segelschiff zerrte er nun aus Leibeskräften am Steuer, um wenigstens in der Spur zu bleiben. Allmählich verlor das Fahrzeug an Geschwindigkeit, er rangierte es mit letzter Kraft in eine Parklücke und zog mit zitternden Händen die Handbremse fest. Um das Auto musste sich Rüdiger, sein achtzehnjähriger Sohn, morgen kümmern, schließlich hatte der Kerl gerade das Abitur abgelegt und bis zu ihrer Ferienreise frei. Er selbst würde am kommenden Tag eben ausnahmsweise einmal mit der Bahn auf Arbeit fahren.

      Dann stieg er aus, für heute reichte es ihm. Die verwunderten Blicke der Passanten nahm er wahr, ebenfalls, dass ein Polizeiauto langsam an ihm vorüberrollte und er daraus fotografiert wurde. Wäre er sich selbst begegnet würde es ihn nicht gewundert haben angestarrt zu werden, denn der Mann der da auf dem Bürgersteig lief, war schon ein seltsamer Vogel. Über den immer noch quietschenden Schuhen (man weiß ja warum) sah man die typische Hose, die von afghanischen Männern getragen wird, sein ehemals weißes Hemd war grün gepunktet und in seinem öligen Gesicht prangte auf der Stirn eine bereits ausladende Beule. Wer ihn noch näher betrachtete konnte die zerschundenen und dreckigen Hände sehen, die im krassen Gegensatz zu dem teuren Jackett standen, welches er über dem verschmutzten Hemd trug. Noch 200 Meter redete er sich Mut zu, dann bin ich zu Hause und mit starrem und nach vorn ausgerichteten Blick stakste er mit jetzt weit ausgreifenden Schritten an den staunenden Leuten vorbei.

      Vor der Haustür fummelte er den Schlüsselbund mit zittrigen Händen aus seiner Aktentasche und öffnete den Briefkasten. Eine Menge bunter Prospekte fiel ihm in die Hände, noch eine kostenlose regionale Zeitung und ein Brief, das musste der vom Finanzamt sein. Wenigstens eine gute Nachricht heute. So weit wie er in seinem verwirrten Zustand der Lage gewesen war, hatte er sich auf dem Weg schon eine Erklärung für seinen außergewöhnlichen Aufzug zurecht gelegt. Petra, seine Frau, hatte heute Gott sei Dank Spätschicht im Krankenhaus, bis morgen könnte er eine plausible Erklärung für den Verlust der Hose und die Verschmutzung des Hemdes konstruieren. Rüdiger würde sicher wie üblich vor dem Computer hängen und sich kaum für seinen Aufzug interessieren und seine zwei Jahre jüngere Schwester Claudia erst dann ihr Zimmer verlassen, wenn er zum Abendbrot rief. An Rüdiger kam er ungesehen vorbei (weil die Tür halboffen stand hörte er, dass sein Sohn wahrscheinlich einen Shooter zockte, denn das Rattern von Maschinenwaffen deutete darauf hin), stellte seine Tasche ab, warf die Post auf den Küchentisch und ging eilig ins Schlafzimmer, wo er sich seine Haus Hose und einen frischen Schlüpfer griff. Das Hemd tauschte er gegen ein T-Shirt und barfuß, denn seine Socken waren noch nass, eilte er ins Bad, die afghanische Hose, die Socken und das gesprenkelte Hemd warf er in den Wäschekorb, dann zog er sich ganz aus, schmiss den Schlüpfer ebenfalls in den Korb und trat unter die Dusche. Erstmalig seit Stunden fühlte er sich wieder entspannt, das warme Wasser ran belebend über seinen Kopf und den Körper und da er kräftig Duschgel einsetzte konnte er die Ölreste und den sonstigen Schmutz fast vollständig entfernen. Dennoch waren seine Hände nicht so akkurat wie üblich gepflegt, unter den Fingernägeln waren dunkle Ränder verblieben, aber in zwei Tagen sollte die Sache ausgestanden sein.

      Aufatmend nahm er am Küchentisch Platz und sortierte die Post, dabei ging er immer so vor, dass er Haufen bildete. Die Werbung legte er links vor sich hin, die Zeitung rechts und den Brief in die Mitte. Frieder Bergmann bewegte einen auf einer langen und vielgliedrigen Knochensäule sitzenden länglichen und eiförmigen Behälter, der, da dieser ebenfalls aus dem gleichen harten Material wie die Säule bestand, die entscheidenden Steuerungselemente in ihm gut schützte (wie sich bereits gezeigt hatte, lediglich die Beule war entstanden) jetzt nach links, zwei in Höhlen eingeschlossene Organe, die von Hornhäuten geschützt wurden, rasterten die Fläche vor ihm ab und ein Befehl seines Hirns veranlasste einen seiner Arme, sich zu bewegen. Fünf schmalgliedrige und von Fleisch und Haut umhüllte, sowie mehrfach durch Gelenke miteinander verbundene Knochenstücke führten eine durch Hirnströme koordinierte Arbeit durch, indem sie sich in unterschiedlichem Maß krümmten und drei von ihnen schließlich das Papier des Briefes vorsichtig umschlossen. Als sie sich, nur durch die dünne Fläche des Blattes voneinander getrennt, aber doch deutlich spürend berührten, verstärkte sich der Druck und der Arm fuhr seinen Weg zurück, um den Brief schließlich direkt vor Bergmann abzulegen. Zwei an dem eiförmigen Behälter angebrachte muschelartige Trichter hatten während der gesamten Zeit zur Wahrnehmung von Geräuschen gedient. Mehrere Untersysteme in den Sehorganen begannen mit der Arbeit und übersetzten die visuelle Information in eine für sein Hirn verständliche, mithin in Text. Irgendwie musste dieser für den Mann eine gewisse Bedeutung haben, denn der Druck in seinen Blutgefäßen erhöhte sich durch die plötzlich erhöhte Pumpleistung eines weiteren Organs schnell und stark, was dazu führte, dass das für die Sauerstoffversorgung zuständige Organ nunmehr auch mehr Arbeit leistete. Im Ergebnis dieser Anstrengung gab ein sackartiger Behälter, aus dem Arme und Beine sowie die Knochensäule wuchsen und der noch weitere, bestimmten Funktionen wie der Entgiftung, der Nahrungsverarbeitung und der Sauerstoffbeschaffung dienende Teile unterschiedlichster Form aufnahm, speziell unterhalb der Arme Flüssigkeit ab, die auch noch an der Oberseite des eiförmigen Gegenstandes, der von Hornfäden aus Keratin besetzt war, austrat.

      Frieder Bergmann schwitzte heftig, denn er hatte auf dem Brief die Handschrift von Hannelore Bergmann, seiner Mutter, erkannt.

      „Wer keine Prinzipien hat und sich nicht an die Regeln hält bleibt immer ein Hallodri“ war ein Kernsatz von Hannelore Bergmann, und sie benahm sich dementsprechend.

      Ihr verschiedener Gatte, Berthold Bergmann, hätte ein Lied davon singen können, bloß lag er schon seit einigen Jahren auf dem städtischen Friedhof und war dazu jetzt verständlicherweise nicht mehr in der Lage. Hannelore Bergmann war vor vier Wochen 67 Jahre alt geworden, Berthold Bergmann war mit 71