Spiel des Zufalls. Joseph Conrad. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joseph Conrad
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750247857
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frische Nacht war erfüllt vom Geruch der Erde, der aufgebrochenen Scholle, wie ein Grab -- eine Gedankenverbindung, die einem Seemann besonders verhaßt ist, weil sie ihn an Enge und Begrenzung gemahnt; sogar dann noch, wenn er die Hoffnung aufgegeben hat, im Meer bestattet zu werden. Und das ist so ziemlich die letzte Hoffnung, die ein Seemann wissentlich aufgibt, auch wenn er, wie es ja vorkommt, durch irgendeinen Zufall dazu gebracht worden ist, sich an Land sein Brot zu verdienen. Ein scharfer Grabesgeruch. Der Straßengraben mochte wohl in nächster Nähe des Dorfes neu ausgehoben worden sein.

      Sobald wir vom Garten klar waren, schoß Fyne dahin wie ein Rennboot. Was war ihm eine Meile -- oder zwanzig Meilen? Glaubst du vielleicht, er hätte sich zögernd auf die Suche gemacht? Es war wohl die Macht des Gehsportgeistes, der ihn erfüllte. Ich rannte neben ihm her, verhöhnte mich selbst und fühlte einen Riesenzorn gegen den Backfisch. Denn das war sie für mich, ob tot oder lebendig ... Ein Backfisch!«

      Ich lächelte ein wenig ungläubig über Marlows Heftigkeit. Marlow hielt mit einem spöttisch-nachdenklichen Ausdruck kurz im Sprechen inne, ließ sich aber im übrigen nicht beirren.

      »Ja, ja, sogar tot. Und das empört dich. Du armer Teufel bist ein gar so ritterlicher Mann. Ich aber habe genug Weibliches in mir, um mein Urteil über Frauen von ritterlicher Ehrfurcht frei zu halten. Und warum sollte ich mich auch anders machen, als ich bin? Für mich ist eine Frau nicht notwendig eine Puppe oder ein Engel. Sie ist ein menschliches Wesen, mir selbst recht ähnlich. Und zu viele, zu viele habe ich am Fuße unersteigbarer Riffe abgestürzt liegen sehen, als daß die bloße Möglichkeit, einen Leichnam am Grunde eines Steinbruchs zu finden, meinen Freimut hätte bändigen können.

      Die Steilwand des Steinbruchs erhob sich drohend vor uns. Ich gebe zu, daß Fyne und ich einen Augenblick zauderten, bevor wir uns von der Straße weg in das Gebüsch stürzten, das breit den Eingang abschloß. Die Sträucher hingen alle schwer voll Tau. Es gab auch ein paar verborgene Löcher. Wir krochen und strauchelten und tasteten uns mit den Händen am Boden vorwärts, wurden durch und durch naß, ganz voll Schmutz und reichlich zerkratzt. Fyne stürzte plötzlich in eine merkwürdige Höhle -- wahrscheinlich einen aufgelassenen Kalkofen. Als er betrübt seine Stimme erhob, da dröhnte sie feierlicher und tiefer noch als sonst. Das war die komische Kehrseite einer angeblich tragischen Situation. Während ich ihm heraushalf, erlaubte ich mir endlich ein offenes Gelächter. Fyne natürlich tat nicht mit.

      Ich brauche dir nicht zu sagen, daß wir trotz gewissenhafter Suche schließlich doch nichts fanden. Fyne bahnte sich sogar einen Weg bis zu einem verfallenen Schuppen, der in taunassem Gestrüpp verborgen lag. Er rieb Streichhölzer an, immer ein paar auf einmal, als wollte er sich unbedingte Gewißheit darüber verschaffen, daß die verschwundene Freundin seiner Frau sich nicht etwa dort verbarg. Das kurze Aufflammen beleuchtete sein ernstes, unbewegtes Gesicht, während ich mich ganz hemmungslos gehen ließ und in förmliche Lachkrämpfe verfiel.

      Ich fragte ihn, ob er ernsthaft und wirklich glaube, daß irgendein gesundes Mädel hergehen und sich in einem Schuppen verbergen würde; und wenn ja, warum?

      Voll Verachtung für meine Heiterkeit beschränkte er sich darauf, in tiefstem Baß Dankesworte zu murmeln, daß wir sie nirgends hier gefunden hatten. Da ich inzwischen für die Abstufungen der ganzen Geschichte ein wesentlich feineres Gehör bekommen hatte (wohl infolge des Ärgers), so empfand ich sofort den Vorbehalt in seinem Dankgebet, und daß er mit einem Auge, sozusagen, immer noch nach dem Brunnen in der Nachbarschaft schielte. Und ich erinnere mich sogar, daß ich den armen Fyne unverhohlen auslachte.

      Was mich nämlich so ganz außer mir brachte, war sein Gehtempo. Verschiedene Meinungen über politische, ethische, auch ästhetische Fragen brauchen noch keine grundsätzliche Gegnerschaft zu schaffen. Man kann seine Meinungen ändern; auch seinen Geschmack. -- Es geschieht ja auch oft genug. Sogar der Tugendbegriff jedes einzelnen unter uns ist einer besonderen Versuchung preisgegeben, die der Zufall uns eines Tages bescheren kann. Alle diese Dinge sind ständig im Fluß. -- Ein Unterschied im Temperament aber ist die Basis des Hasses, denn das Temperament ändert sich nicht. Darum sind auch religiöse Zwistigkeiten so erbittert. -- Mein Temperament nun verlangt in allem, was mit dem festen Lande zusammenhängt, gemächliche Bewegung und Muße. Und da war also der kleine Fyne, der in geradezu aufreizender Art auf der Straße vorwärtsstürmte. Ein Mann, der sich die dicksohligen Schnürschuhe erwählt hatte, während mein Temperament dünne, ganz leichte Schuhe verlangt. Natürlich konnte von Freundschaft zwischen uns nie die Rede sein. Unter dem steten Zwang aber, mit ihm Schritt zu halten, begann ich ihn tatsächlich zu hassen. Ich bat ihn höhnisch, mir zu sagen, ob wir in einer Posse oder in einem Trauerspiel mitspielten. Ich wünschte, so sagte ich, meine Gefühle danach einzurichten, die sich in einem Zustand bedauerlicher Verwirrung befänden.

      Doch Fyne war für Hohn unempfänglich wie eine Schildkröte. Er trottete weiter und begnügte sich damit, zweimal aus tiefster Brust, abgerissen, zweifelsschwer vor sich hin zu sagen: ›Ich fürchte ... ich fürchte ...‹

      Das klang tragisch. Das Aufknallen seiner dicksohligen Schuhe war der einzige Laut in der nächtigen Welt. Meine Schritte klangen daneben geisterhaft leise. Infolge einer merkwürdigen Sehtäuschung schien die Straße bergauf zu führen, ein paar scheinbar ganz nahen, niedrigen Sternen zu; im Maße aber, wie wir vorwärtskamen, wuchsen immer neue Streifen grauweißen Bandes aus dem Schoße der Dunkelheit. Im Vorübergehen stellte ich fest, daß die Lampe in meinem Wohnzimmer immer noch brannte. Doch brachte ich es nicht fertig, Fyne zu verlassen, um sie auszulöschen. Sein sportliches Vorwärtsdrängen teilte sich mir mit und riß mich in seinem Kielwasser mit fort, bevor ich zu einem Entschluß kommen konnte.

      ›Sagen Sie, Fyne,‹ rief ich, ›Sie glauben nicht, daß das Mädel verrückt war, oder?‹

      Er antwortete nicht. Kurz darauf kam das Leuchtfeuer des Villafensters in Sicht. Da äußerte Fyne ein überzeugtes ›Gewiß nicht!‹, fügte aber fast augenblicklich hinzu: ›Sehr überspannte junge Person!‹ und stellte mich damit vor neue Zweifel. Also doch eine Tragödie?

      ›Niemand ist je um sechs Uhr früh aufgestanden, um Selbstmord zu begehen‹, warf ich trocken hin. ›Das wäre unerhört! Es ist eine Posse!‹

      Ich will dir gleich sagen, daß es tatsächlich weder eine Posse noch eine Tragödie war.

      Als wir an der Villa angekommen waren, sahen wir Frau Fyne immer noch mit gefalteten Armen im Lichtkegel der Tischlampe sitzen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie während unserer Abwesenheit den Kopf auch nicht um einen Zoll gerührt. Es wirkte verblüffend unangenehm. Warum unangenehm? -- Ich weiß nicht, vielleicht weil ich sie gerade in so grellem Lichte sah. Das meine ich wörtlich. -- Im Lichte einer unbeschirmten Lampe. Unsere gedanklichen Schlüsse hängen so sehr von augenblicklichen körperlichen Eindrücken ab, nicht wahr? Hätte die Lampe einen Schirm gehabt, dann hätte ich vielleicht höflich den Fynes mein Beileid zu dem unerfreulichen Vorfall ausgesprochen und wäre nach Hause gegangen.

      Es ist unerfreulich, eine junge Freundin auf solche Art zu verlieren. Es ist auch geheimnisvoll. So geheimnisvoll, daß es sogar noch auf die Leute abfärbt, denen es geschieht. Überdies hatte ich die Fynes nie richtig verstanden; ihn mit seiner Feierlichkeit, die sich noch in der Art äußerte, wie er Butterbrot aß; sie mit der entschlossenen Sachlichkeit, die sie dem alltäglichen Ablauf ihres reizlosen Lebens entgegenbrachte, dieses Lebens, in dem das Abschneiden von Butterbroten weitaus die gefährlichste Verrichtung darstellte. Manchmal vergnügte ich mich in dem Gedanken, wie überwältigend sich doch in ihren Köpfen diese unsere Welt darstellen müsse, und wie schauerlich tiefgründige und verzweifelte Vorstellungen sie wohl damit verbänden. Ich versuchte mir auch auszumalen, welche Stürme wohl dadurch in den unergründlichen Tiefen ihres Lebens entfesselt werden mochten. Das letztere war für einen oberflächlichen Menschen wie mich (denn sicherlich galt ich den Fynes als oberflächlicher Mensch) recht schwierig, und auch das Vergnügen dabei war nicht sehr groß; doch immerhin -- auf dem Lande -- weitab von jeder geistigen Anregung! ...

      Als ich aber mit Fyne in das Zimmer getreten war, da erschien mir im biederen, häuslichen Lichte der Lampe, jeder Phantasie abhold, das Ehepaar aller der Märchengewänder entkleidet, die ich ihm insgeheim oft umgetan hatte. Seltsam genug waren sie ja.