Spiel des Zufalls. Joseph Conrad. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joseph Conrad
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750247857
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Schlenderschritte an, was ihm bei seinem hochentwickelten Gehstil recht schwer gefallen sein muß. Ich bin überzeugt, daß sein ganzer, muskulöser Körper unter einer unglaublichen physischen Langeweile zu leiden hatte; aber er machte auch nicht den leisesten Versuch, ihr durch eine Unterhaltung abzuhelfen. Er hüllte sich in ein düsteres Schweigen. Und das langweilte mich auch. Plötzlich sah ich eine noch viel ärgere Langeweile voraus. Gewiß! Er war deshalb so schweigsam, weil er mir etwas zu sagen hatte.

      Ich bekam einen ungeheuren Schrecken. Aber der Mann, dieses achtlose Tier, ist so beschaffen, daß in ihm die Neugierde, die niedrigste Neugierde, jedes Entsetzen überwiegt, jeden Abscheu und sogar die Verzweiflung. Meine gleichmütige Aufforderung, mit hereinzukommen und ein Glas zu trinken, beantwortete er mit einem tiefen, tragisch betonten ›Danke, ich will es‹, als spräche er vor dem Altar. Der Ausdruck seines Gesichtes, soviel ich davon beim Lampenlicht sehen konnte, gab mir keinen Aufschluß über die Art der bevorstehenden Mitteilung; wie es ja auch ganz natürlich war, da er sich für gewöhnlich schon so tiefernst zeigte. Er wirkte immer förmlich und unbeweglich und hätte das ganz gewiß auch getan, wenn er mir etwas ganz unglaublich Komisches mitzuteilen gehabt hätte.

      Er blickte mich ernsthaft an und entledigte sich einiger gewichtiger Bemerkungen darüber, daß Frau Fyne die Neigung hege, sich mit jungen Mädchen jedes Standes anzufreunden und ihnen Rat und Geleit zu geben auf den Pfaden des Lebens. Es war eine freiwillige Mission. Er billigte dieses Tun seiner Gattin und desgleichen ihre Ansichten und Grundsätze überhaupt.

      All dies mit undurchdringlichem Gesichte und tiefer, abgemessener Stimme. Trotzdem drängte sich mir die Überzeugung auf, daß er über irgendein besonderes Geschehnis außer sich war. In der bösen Hoffnung, mich an dem Unglück eines Mitmenschen erfreuen zu können, fragte ich ihn geradeswegs, was denn eigentlich passiert sei.

      Nun, es war passiert, daß eine junge Freundin vermißt wurde, und zwar seit genau sechs Uhr an jenem Morgen. Die Bedienerin, die die Hausarbeit tat, hatte sie zu der genannten Stunde zu einem Spaziergang das Haus verlassen sehen. Der Begriff ›Spaziergang‹ war im Hause der Fynes, der Wandersportler, nicht eben eng. Aber das Mädchen war weder zum Mittagessen, noch zum Tee, noch zum Nachtmahl heimgekehrt. Weder zu Fuß, noch im Wagen oder mit der Bahn. Er hatte sich nicht entschließen können, Erkundigungen einzuziehen, um nicht den Dorfklatsch zu entfesseln. Die Fynes hatten sie jeden Augenblick zurückerwartet, bis die Schatten der Nacht und das Schweigen des Schlafes sich allmählich über die friedliche Landschaft gesenkt hatten, die sich rings um die Villa dehnte.

      Nach dieser Eröffnung saß Fyne in quälenden Zweifeln da. Schlafengehen kam ja nicht in Frage -- und doch konnte augenblicklich auch nichts weiter unternommen werden. Was er mit sich selbst anfangen sollte, wußte er auch nicht.

      Ich fragte ihn, ob dies dasselbe junge Mädchen sei, das ich kurz vor meiner Abreise in die Stadt gesehen hätte. Er konnte sich nicht erinnern. ›Hatte sie dunkles Haar und blaue Augen?‹ fragte ich weiter. Er konnte beim besten Willen nicht sagen, welche Farbe ihre Augen hatten. Seine Beobachtungsgabe beschränkte sich ausschließlich auf Fußwege, in denen er allerdings Sachverständiger war.

      Ich bedachte mit Staunen, daß Frau Fynes junge Anhängerinnen für ihren Gatten nicht mehr bedeuteten als gleitende Schatten. Nach kurzem Zögern vermochte Fyne aber doch zu bestätigen, ja ... daß ihr Haar von einer dunklen Tönung gewesen sei.

      ›Dieses Mädchen hat uns von Anfang bis zuletzt viel zu schaffen gemacht‹, erörterte er feierlich. Dann sprang er auf, wie von einer Feder hochgeschnellt, und griff nach seiner Mütze. ›Vielleicht ist sie nach Hause gekommen‹, rief er mit seiner Baßstimme. Ich folgte ihm auf die Straße hinaus.

      Es war eine der tauigen, sternenhellen Nächte, die unseren Geist bedrücken, unseren Stolz niederzwingen, durch die Erkenntnis, wie trostlos einsam und nichtssagend unsere Erdkugel sich verliert in den strahlenden Weiten des unbeseelten Raumes. Ich hasse solchen Nachthimmel. Das Tageslicht ist dem Manne Freund, der unter wärmender Sonne seine Arbeit tut; auch wolkige, laue Nächte sind unserem Daseinsgefühl günstig. Am liebsten wäre ich in mein erleuchtetes Wohnzimmer zurückgelaufen. Denn es schien mir doch gar zu lächerlich, mich mit Fyne abzugeben, der da in Kniehosen unter den Gestirnen auf der nächtigen Erde stand und sich wegen eines unbedeutenden, kleinen Mädchens aufregte. Anderseits lag gerade in der Torheit auch wieder ein gewisser Reiz. Er hängte sein bestes Tempo ein, und ich sah mich so um elf Uhr nachts zu einer ernsthaften Leibesübung gezwungen. Weither über die Felder und Bäume, die im Dunkel verschwanden, grüßte ein erleuchtetes Fenster des Landhauses, ohne Vorhänge, wie ein Leuchtfeuer, das dem verlorenen Wanderer den Weg weisen sollte. Wir sahen Frau Fyne drinnen an dem Tisch unter der Lampe sitzen, mit gekreuzten Armen, jedes Haar sauber glatt gestrichen. Sie sah ganz und gar wie eine Gouvernante aus, die die Kinder zu Bett gebracht hat. Auch ihr Benehmen mir gegenüber war das einer Gouvernante. Ihrem Mann gegenüber auch, nebenbei bemerkt.

      Fyne sagte ihr, daß ich von allem unterrichtet sei. Kein Muskel in ihrem sonnverbrannten, glatten Gesicht rührte sich. Wahrscheinlich war sie sehr stolz auf diese eiserne Selbstbeherrschung. Denn da sie es mitangesehen hatte, wie zwei Frauen des feinsinnigen Dichters nacheinander durch allerlei Quälereien ins Grab gebracht worden waren, so hatte sie wohl diese kühle, abwesende Art angenommen, um den Ausbrüchen ihres begabten Vaters zu begegnen. Nun war sie ihr zur zweiten Natur geworden. Sie konnte, glaube ich, gar nicht mehr davon lassen; wohl auch nicht in der Stunde, als sie mit dem kleinen Fyne durchgebrannt war. Erinnerte man sich übrigens in ihrer Gegenwart an diese letztere Tatsache, so kam sie einem ganz unglaublich vor. Immerhin paßte ihre Selbstbeherrschung gut zu Fynes ewiger Feierlichkeit.

      Er tat mir richtig leid. Wie nahe es ihm ging! Schattenseiten der Feierlichkeit. Es belustigte mich aber auch. Ich sah die ganze Sache mit dem verschwundenen Mädchen nicht mehr so tragisch an. Konnte es nicht. Doch sagte ich auch nichts. Keiner von uns sagte ein Wort. Wir saßen um den großen runden Tisch herum, als hätten wir uns zu einer Beratung versammelt, und sahen einander nicht sonderlich geistreich an. Ich war daran, laut herauszulachen, als mich Fyne davor bewahrte, indem er letzte Weisheit von sich gab.

      Er eröffnete uns mit ernster Bekümmernis, daß er am nächsten Morgen zur Polizei gehen, eine Personalbeschreibung drucken lassen und Leute dazu anstellen wolle, die Brunnen in der Umgegend abzusuchen. Es klang sehr unheimlich. Ich murmelte etwas von einer Verständigung der Verwandten der jungen Dame. Das schien mir ganz natürlich. Fyne aber wechselte mit seiner Frau einen so bedeutungsvollen Blick, daß ich mir vorkam, als hätte ich eine Taktlosigkeit begangen.

      Ich wollte aber dem armen Fyne helfen, und da ich sah, wie er männlich unter der Unfähigkeit zu handeln, dem tatenlosen Warten litt, so sagte ich: ›Nichts davon kann bis morgen früh veranlaßt werden. Da Sie mir aber nun gezeigt haben, in welcher Richtung sich Ihre Vermutungen bewegen, so kann ich Ihnen etwas sagen, was wir sofort tun können: wir können auf dem Grunde des alten Steinbruchs nachsehen gehen, der etwa eine Meile von hier an der Landstraße liegt.‹

      Das Ehepaar schien hierüber sehr erstaunt, und so erzählte ich ihnen von meinem Zusammentreffen mit dem Mädchen. Es wird dich vielleicht überraschen, und doch versichere ich dir, daß mir bis zu diesem Augenblick diese Seite der Frage nicht zum Bewußtsein gekommen war. Es war wie eine plötzliche Erleuchtung, wobei die Vergangenheit ein düsteres Licht auf die Zukunft warf. Fyne öffnete feierlich den Mund und schloß ihn ebenso feierlich wieder. Nichts sonst. Frau Fyne sagte: ›Ihr solltet wirklich gehen!‹ mit einem Ausdruck, als wäre ihre Selbstbeherrschung an irgendeinem geheimen Fleckchen mit einer Stecknadel gekitzelt worden.

      Und ich -- du weißt, wie dumm ich gelegentlich sein kann -- ich sah dabei erst ein, daß ich mir eine neuerliche scharfe Leibesübung auf den Hals geladen hatte, indem ich Fynes trüben Gedankengängen gefolgt war. Und ob es mir leid tat, daß ich geredet hatte! Du weißt, wie mir das Gehen verhaßt ist, zumindest auf der festen, ländlichen Erde. Denn auf einem Schiffsdeck kann ich eine ganze Nebelnacht auf und ab gehen, ohne daß es mir was ausmacht. Es kann ja auch gelegentlich seinen Reiz haben, die Straßen einer großen Stadt zu durchwandern, bis der Himmel über den Klippen der Dächer verblaßt. Damit habe ich mich öfter als einmal unterhalten. Doch ist es mir immer als der Inbegriff des Schrecklichen erschienen, bei Nacht über offenes Land hinzutrotten.