„Was ist los, Nina?“, fragte Erika Lange erregt, während sie mit ihrer rechten Hand den Hinterkopf der Tochter umfasste und deren Stirn dann fest an ihre Schulter presste.
„Kind, so sprich doch! Was ist passiert? Was hast du denn?"
Nur mit Mühe schaffte es Nina, eine Antwort zu schluchzen.
„Ach Mutti, es ist so schrecklich!"
Was ist denn passiert?“, drang die Mutter weiter auf sie ein.
„Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber..." unterbrach sich die Tochter, während sie sich langsam aus der Umarmung löste. „Ich muss mich jetzt erst setzen. Holst du mir bitte ein Glas Wasser?"
Erika Lange zögerte kurz, gab dann der Wohnungstür einen Stoß, sodass sie ins Schloss fiel, und eilte in die Küche. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es aus einer bereits angebrochenen Flasche mit Mineralwasser, welche sie ihm Kühlschrank fand. Nina schlich während dessen ins Wohnzimmer und ließ sich dort in das Sofa fallen. Im nächsten Moment kniete die Mutter vor ihr, reichte ihr das Glas Wasser und forderte sie erneut ungeduldig zum Sprechen auf.
„Kind, nun sag doch endlich, was los ist!"
„Moment!“, bat Nina um ein paar Sekunden Zeit und trank das Glas vollständig aus, wobei sie darauf Acht geben musste, dass sie sich nicht wegen des Schluchzens verschluckte.
„Ich weiß nicht, was passiert ist, Mama", begann sie sodann, das bohrende Verlangen der Mutter um Information jedoch kaum befriedigend. „Ich weiß nur, dass es schrecklich gewesen ist. Erst dachte ich, ich sei vergewaltigt worden, aber nun glaube ich es nicht mehr."
Sie musste einen Moment innehalten, weil eine neuerliche Weinattacke über sie kam. Recht schnell aber hatte sie sich wieder so weit unter Kontrolle, dass sie fortsetzen konnte.
„Ich fand mich nur auf dem Boden einer Lagerhalle irgendwo im Bereich Berliner Straße, Industriestraße. Ich lag auf dem Boden, als ich wach wurde, und war völlig nackt, und auch leicht am Rücken verletzt."
"Du warst nackt? Warum warst du nackt, woraus bist du erwacht, und wie bist du in die Halle gekommen?"
„Ich weiß es doch nicht, ich sage es dir doch!“, entgegnete Nina ungehalten, um dann, immer wieder durch ein Schluchzen unterbrochen, fortzusetzen. „Ich bin auf jeden Fall entführt worden, denn das Letzte, was ich noch weiß, ist, dass ich mein Auto aus der Tiefgarage unter dem Theaterplatz holen wollte, als mir jemand plötzlich von hinten ein süßlich riechendes Tuch auf Mund und Nase gedrückt hat. Ab da fehlen mir sämtliche Erinnerungen bis zu dem Moment, als ich am Boden liegend wach geworden bin."
Erika Lange kniete weiterhin vor ihrer Tochter und streichelte ihr unbewusst und nur aus einem mütterlichen Gefühl heraus den linken Arm. Sie fühlte sich hilflos, unendlich hilflos. Angst und Sorge wollten nicht von ihr weichen, denn zu ungewiss waren die Hintergründe dessen, was die Tochter hatte erleben müssen. Ihre Kehle war nun wie zugeschnürt, sie hätte kein Wort über ihre Lippen gebracht, selbst wenn sie eine Idee gehabt hätte, womit sie ihre Tochter aufrichten und stützen konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, sie zu quälen. Tränen liefen ihre Wangen hinunter.
Die beiden Frauen verharrten einige Augenblicke in ihren Positionen, ohne ein einziges weiteres Wort zu wechseln.
„Wieso bist du eigentlich hier in meiner Wohnung, wieso warst du schon da, als ich kam?“, fragte Nina unvermittelt. Sie gewann langsam ihre Fassung zurück, und so wurde ihr nunmehr das ungewöhnliche Verhalten der Mutter bewusst. Nur die gelegentlichen reflexhaften Atemzüge, die gewöhnlich einem heftigen Weinkrampf folgen, sowie ihre geröteten Augen erinnerten noch an die vergangenen Minuten.
Erika Lange sah in die fragenden Augen der Tochter, sie schluckte mehrfach kräftig, um das Gefühl der zugeschnürten Kehle zu überwinden und ihre Sprache wieder zu erlangen. Es vergingen etliche Sekunden, während derer sich die beiden Frauen stillschweigend ansahen.
„Ich bin von einem Mann hierher dirigiert worden. Erst hat er auf meinen Anrufbeantworter gesprochen, dann hatten wir auch ein persönliches Gespräch am Telefon. Zunächst hat er verlangt, dass ich in meiner Wohnung auf seinen zweiten Anruf warte, und dann im persönlichen Gespräch, dass ich mich in deine Wohnung begebe und dort auf dich warte."
Sie verkürzte ihre Schilderung auf ein zum oberflächlichen Erfassen notwendiges Minimum.
„Wer war der Mann und was bezweckt er?“, fragte Nina, obwohl ihr klar war, dass die Mutter keine befriedigenden Antworten für sie haben würde.
„Ich weiß es nicht," machte diese Ninas Annahme zur Gewissheit. „Er hat verlangt, dass ich hier in deiner Wohnung auf einen neuerlichen Anruf von ihm warte. Wahrscheinlich wird er dann mit der Sprache herausrücken und offenbaren, was er von mir oder von uns will."
„Er will hier bei mir anrufen und dann dich sprechen?“, fragte Nina. Sie hatte das Gefühl ohnmächtig Abläufen gegenüber zu stehen, von denen sie noch nichts verstanden hatte.
„So hat er es gesagt", bestätigte ihre Mutter. „Und er hat mich eindringlich davor gewarnt, die Polizei einzuschalten, da er dir sonst schweren Schaden zufügen würde."
Die Frauen schwiegen erneut für ein paar Sekunden. Die jüngsten Geschehnisse hatten Eindrücke und Gefühle aufgebaut, die nicht einfach in Minuten verarbeitet werden konnten.
Unversehens sprang Nina, die sich von der eingetretenen Stille bedrängt fühlte, auf.
„Was bildet sich dieser Kerl ein?“, entrüstete sie sich. Sie schritt zum Fenster und sah auf die Straße hinab, so wie es auch Erika Lange während des Wartens auf ihre Tochter unzählige Male getan hatte, um sich sogleich wieder abzuwenden und plan- und ziellos im Zimmer hin und her zu gehen.
„Diese Warterei macht mich verrückt!“
Erika Lange stand auf und stellte sich ihrer Tochter in den Weg, um ihr sodann beide Hände auf die Schultern zu legen.
„Quäl dich nicht noch mehr, mein Schatz!“, versuchte sie auf Nina einzuwirken, obwohl sie sich eigentlich selbst in einer Verfassung befand, in der sie Zuspruch benötigte.
Nina verhielt für einen Augenblick, wand sich dann jedoch aus den Armen der Mutter und ging zurück zum Fenster.
„Ich quäle mich nicht!“, rief sie barsch aus. „Ich bin gequält worden und ich werde gequält!“
„Vielleicht will der Unhold doch nur erreichen, dass wir in Panik geraten“, versuchte ihre Mutter eine Erklärung, von der Sie jedoch bereits vor dem Aussprechen wusste, dass diese nur den Charakter einer Beschwichtigung, nur den Wert einer Illusion haben konnte.
„Der Kerl will mehr! Wer solche Anstrengungen unternimmt, will nicht einfach nur Panik auslösen!“
Sie ging wieder auf ihre Mutter zu und blieb direkt vor ihr stehen, um ihr ernst in das Gesicht zu sehen.
„Der Dreckskerl lässt uns warten. Das macht er ohne Zweifel bewusst, aber damit wird es nicht getan sein. Wenn jemand zu solchen Mitteln greift, dann geht von ihm eine schlimme Drohung aus! Da kommt etwas Schreckliches auf uns zu, glaub mir! Der hält etwas für uns bereit, vor dem wir uns schon im Vorfeld ängstigen dürfen! Ich weiß, dass uns etwas droht, aber ich weiß nicht, was es ist. Diese Ungewissheit macht mich verrückt!“
4 – Geheimnisvolles Telefonat
Nur einen Katzensprung von wenigen hundert Metern entfernt wurde zur gleichen Zeit ein Telefongespräch geführt, dessen angerufener zweiter Teilnehmer unter südlicher Sonne weilte.
„Es interessiert mich nicht, ob Sie alles in die Wege geleitet zu haben meinen, um die Angelegenheit wieder in Ordnung zu bringen!“, schnaubte der soeben in sein Mobilteil. „Ich will nur schnellstens von Ihnen hören, dass Sie Ihr Versäumnis von damals aus der Welt geschafft haben! Ohne Ihr unprofessionelles Verhalten gäbe es heute