Ein Jahr aus irgendeinem Leben. Pat Oliver. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pat Oliver
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847675068
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klein, jeden Morgen ein neues Album von „The Who“ oder „Pink Floyd“, deutscher Philosophenrock, oder alte Jazz-Platten und dann abends einen komplizierten Film, den man erst am Ende, oder nach zweimaligem Sehen begreift. Dann bin ich glücklich.

      Allerdings sollte man mich wirklich nicht auf Partys lassen, auf denen gerade der letzte Joint geraucht und das letzte Sixpack Bier angebrochen wird. Ich trinke zwei Bier und rauche mit. Ich habe in meinem Leben noch niemals Gras gekauft. Ich käme nicht auf die Idee. Aber wenn ich pegeltechnisch im Rückstand bin, dann versuche ich zumindest schnellstmöglich auf ein vergleichbares Level zu kommen. Das allerdings endet, nach zwei Zügen auf Lunge und zwei Flaschen auf Ex, meist in einer Art Paranoia, die ich mir nicht erklären kann. Ich laufe den gleichen Weg, den ich schon auf dem Hinweg genommen habe zurück, aber ich drehe mich ziemlich häufig um und gehe definitiv schneller. Wenn ich den Schlüssel in die Tür stecke, dann schaue ich mich noch drei- bis viermal um, um zu sehen, ob mir jemand gefolgt ist. Die meisten Büsche sehen bei Laternenlicht plötzlich aus wie fiese Verbrecher, die mein Geld wollen und mein Handy und ich stelle mir zwischenzeitlich vor, wie ich um Gnade winsele, oder versuche ihnen zu erklären, dass ich wirklich pleite bin und dass der PIN von meinem Konto nichts nützt, weil es mit 30 Euro im Soll steht.

      Und jetzt gerade beobachte ich ein paar Einbrecher, die es sich im Haus gegenüber bequem gemacht haben. Der eine steht seit einer Viertelstunde gebeugt vor einem Schrank und langsam sollte er sich mal bewegen, sonst rufe ich vielleicht tatsächlich noch die Bullen. Ernsthaft, ich überlege im Moment, welche Waffe in diesem Haushalt am effektivsten für die Verteidigung wäre. Bisher sind mir das große Küchenmesser, der kleine Hammer und mein Kinder-Baseball-Schläger eingefallen, mit dem ich bisher exakt sieben Bälle getroffen habe. Es werden auch niemals mehr werden.

      Scheiße, natürlich können die Einbrecher sehen, dass sie jemand beobachtet. Ich habe mir eben noch eine Zigarette angezündet, die ich jetzt wohl besser hinter vorgehaltener Hand rauchen werde.

      Ich sollte schlafen gehen. Kann ich natürlich nicht. Sie würden mich im Schlaf erwürgen, aber so, dass ich es merke – davon aufwache. Im Moment sitze ich in diesem Zimmer und höre, wie die Tür mit irgendeinem Werkzeug geöffnet wird. Ich bin hinein gegangen, als das Sturmgewehr auf mich zielte. Verdammt.

      Ich weiß, den Drogenkonsumenten unter den Lesern mag das jetzt lächerlich vorkommen. Von Marihuana bekommt man doch keine Halluzinationen. Und vor allem nicht solche Horrortrips. Aber genau genommen ist es das auch nicht. Kein Horrortrip. Was ich da nämlich die ganze Zeit höre, sind Geräusche, die mein Kühlschrank macht und was ich da sehe, sind entweder Pflanzen oder diverse andere Gartendekorationen. Das Problem ist wohl nur, dass ich mir durch den Gedanken, eine in Deutschland zurzeit illegale Substanz eingeatmet zu haben, einbilde, dass man mich dafür dran kriegen könnte. Das alleine reicht für den ersten Kick, schlägt aber dann in Furcht um, wenn sich durch die Wirkung der Substanz (auch das könnte ich mir einbilden) meine Sinne verschärfen und ich Bewegungen verfolge, die es gar nicht gibt und Geräusche einfach falsch interpretiere.

      Jetzt bin ich wieder langsam unten. Wurde ja auch Zeit. Die Einbrecher vom Haus gegenüber haben endlich das Licht ausgemacht und sind schlafen gegangen. Es würde auch nicht mal für eine Täterbeschreibung reichen. Ich bin also fein raus aus der Sache.

      Irgendwie ist es beruhigend, der Spinne in meiner Badewanne zuzusehen, die übrigens wirklich echt ist. Sie sitzt seit einer Woche da und versucht hin und wieder raus zu kommen. Wäre sie kleiner, dann wäre das wirklich kein Problem, aber ihr Körper, ohne Beine, misst exakt 1,8 Zentimeter. Es ist ein Männchen. Das habe ich kürzlich im Internet recherchiert, nachdem dieses Exemplar das zweite war, das sich innerhalb von zwei Tagen bei mir verirrte. Ich habe sogar überlegt, das Vieh zu füttern, weil ich irgendwie Mitleid mit dem Tier entwickele. Es war wohl auf der Suche nach einem Weibchen, als es zufällig in die Badewanne fiel. Spinnweben kann es auch nicht machen und überleben tut es, indem es der Beute auflauert, bevor es sie blitzschnell mit den Greifarmen, oder wie man die kleineren Beine am Kopf nennt, schnappt. Allerdings wird das schwer sein, denn auf diesem Untergrund ist das Vieh schlecht getarnt. Irgendwann wird es sterben.

      Ich kann es einfach nicht über mich bringen, den kleinen Kerl zu töten. Sein Vorgänger hat eine ziemlich große Spur hinterlassen. Aber anfassen werde ich die Spinne auch nicht. Klar, es gibt diesen Trick mit dem Glas und dem Blatt Papier. Aber wie sicher ist das? Wenn mir der Junge abhauen sollte, dann lebe ich Tag und Nacht mit dem Gedanken, dass er mir in den Mund krabbelt, während ich schlafe und so was muss doch nicht sein. Aus der Wanne kommt er jedenfalls nicht raus und außerdem geht duschen sowieso schneller.

      Jetzt ist es fast drei Uhr. Im Fernsehen fangen bald wieder die Wiederholungen des Vortages an und ich spiele mit dem Gedanken, bis sieben Uhr wach zu bleiben und ein psychologisches Profil jedes einzelnen Fernsehrichters anzufertigen. Im Moment habe ich ja nun wirklich nicht viel zu tun. Meine Studienarbeiten sind alle fein säuberlich abgegeben und werden gerade bewertet. Ich hasse diese Phasen, in denen man sich so sinnlos vorkommt, weil man wieder nur den halben Tag im Bett gelegen und die andere Hälfte gekocht oder gegessen hat. Was anderes kann man aber wohl kaum anstellen. Der 400-Euro-Job in dem Café am Marktplatz verplant auch nur etwa 14 Stunden meiner Woche und ich kann schließlich nicht den ganzen Tag in der Stadt hängen wie ein paar Jugendliche, die die Schule schwänzen. In diesen Zeiten hilft einem das Fernsehen. Egal was läuft, es gaukelt einem immer vor, dass man gerade beschäftigt ist. Ich habe mich sogar schon dabei ertappt, dass ich das manchmal am Telefon sage, nur weil ich diese oder jene Sitcom noch sehen wollte.

      Ein Blick in den Spiegel verrät mir jetzt, dass ich formvollendet im Eimer bin und dass ich bald einfach umfallen werde. Mir ist das egal. Ich schnappe mir ein Bier aus meinem einbruchs­geräuscheimitierenden Kühlschrank und setze mich aufs Sofa. Irgendwo in diesem Raum klingelt es.

      Um diese Zeit rufen mich höchstens zwei Personen an. Eine davon arbeitet in einem Krankenhaus und muss mir erklären, dass meine Eltern einen schrecklichen Autounfall hatten. Die andere heißt Steffi und war in der achten Klasse mal mit mir zusammen. Sie meint, ich könnte gut zuhören und ich habe bei unserer Trennung irgendwas von „immer für dich da“ verlauten lassen. Verfluchte Phrasen. Es scheint irgendwie bezeichnend für Steffi zu sein, dass sie so etwas total ernst nimmt.

      Ich nehme ab und sage „Hallo, Steffi“, während ich erschreckt zusammenzucke und den Hörer gleich wieder einen halben Meter von meinem Ohr weg halten muss. So laut heult sie. Nach ca. zwei Minuten versuche ich es erneut und sage etwas wie: „Was ist denn?“

      Ich verstehe nicht ein Wort. Gar nichts. Man kann sich das ungefähr so vorstellen:

      „Heul...Freund...ich...schnief...getrennt...heul...schnief...10 Minuten...bei dir.“

      Leicht genervt, etwas verstört und immer noch ziemlich im Eimer ziehe ich mir meine Hose wieder an und mache mir einen Kaffee. Die Lage ist ernst. Steffi ist nicht besonders stabil in solchen Situationen. Ich hole eine Box Taschentücher, stelle eine Flasche Wein bereit und prüfe meinen Zigarettenbestand. Der wiederum reicht nie im Leben, aber ich weiß schon, warum ich gegenüber von einer 24-Stunden-Tankstelle wohne.

      Zwei Minuten nach meinem nächtlichen Einkauf sitze ich noch ein wenig gehetzt neben Steffi auf dem Sofa und obwohl ich Taschentücher hingestellt habe, ist meine Schulter jetzt nass. Aber das ist okay. Wenn ich morgen arbeiten müsste, wäre ich jetzt extrem gereizt, aber Steffis Heulkrampf ist doch mal eine gelungene Abwechslung und in angetrunkenem Zustand gibt man ja gerne auch mal Ratschläge. Dazu allerdings braucht man zunächst die ungefähre Situation und den Tatbestand.

      Nach einer Stunde habe ich aus Steffi zumindest die Situation rausgekriegt. Sie hat mit ihm Schluss gemacht. Sie mit ihm. Richtig. Wenn ich Steffi nicht kennen würde, dann würde ich jetzt auch lauter Fragezeichen über dem Kopf haben. Wenn man allerdings weiß, dass ihre Bewältigungsstrategien im Prinzip alle mit übermäßiger Tränendrüsenaktivität zu tun haben, wundert man sich irgendwann nicht mehr. Allerdings ist eine Stunde Heulkrampf auch für dieses Mädchen eine lange Zeit, was mich zum zweiten Teil der Entschlüsselung ihrer Mitteilungen führt – dem Tatbestand.

      Im Moment nehme ich an, dass er sie betrogen hat. Mit ihrer besten Freundin. Allerdings sind das nur vage Mutmaßungen,