Afghanistan, Srebrenica & zurück. Norbert F. Schaaf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert F. Schaaf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844215076
Скачать книгу
ihr Tschetniks? Ich erkenne euch trotzdem! Verfluchte Tschetniks! Wozu diese Maskierung?“

      Alle Versuche, ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass er bei Seinesgleichen sei, schlugen fehl. Je mehr auf ihn eingeredet wurde, desto stärker loderten die Funken des Wahnsinns in seinen Augen. Er sah sich ruckartig um, sprang unvermittelt zur Seite, riss einem Soldaten das Gewehr von der Schulter und lief in langen Sätzen zur Häuserwand.

      „Haut ab!“ kreischte seine irre Fistelstimme, so laut, dass jedermann ringsum dieses nicht mehr menschliche Heulen vernahm.

      „Rettet euch! Die Tschetniks haben uns umzingelt! Rette sich, wer kann!“ Sich duckend und wieder aufrichtend sprang er über die Kreuzung, drohte blindwütig mit dem Gewehr an seiner Hüfte.

      Ohne lange zu überlegen, griff der Offizier zu seiner Pistole. Als er sie mit etwas ungeschickt wirkenden Handbewegungen aus dem Futteral zog, verfing sich die Waffe ein wenig am Kinnband seines Helms, den er am Koppel trug, bevor er mehrere Schüsse abgab auf den panisch schreienden Mann, der koboldartig über den Asphalt tanzte. Jedoch traf keine einzige Kugel. Darauf schoss jemand anders und verfehlte ebenfalls das Ziel.

      Die Reporterin begriff, dass dieser Mensch jetzt mit Sicherheit getötet würde, ja getötet werden musste, wo er doch so entsetzenerregende, Panik auslösende Worte schrie. Anica wollte ihn retten. In diesem Augenblick dachte sie an nichts anderes und lief, sich die Kamera auf den Rücken werfend, auf den Legionär zu. Doch als der die auf ihn zustürzende Reporterin bemerkte, machte er kehrt, hielt das Gewehr vor und rannte ihr entgegen. Seine wahnerfüllten Augen, dicht vor ihr, hasslodernd aus ihren Höhlen tretend, stierten sie an. Ihr Blick widerstand, und das Polizistengemüt in der Reporterin gewann die Oberhand; sie sprang zur Seite, der Bajonettstoß ging ins Leere, und sie packte mit beiden Händen zu: mit der rechten den Lauf und mit der linken den Gewehrschaft. Niemand schoss jetzt mehr, man fürchtete, die Journalistin zu treffen. Sie und der wahnwitzige Legionär versuchten sekundenlang verbissen sich gegenseitig die Waffe zu entwinden. In diesem Ringen bekam Anica allmählich das Gewehr mit beiden Händen am Schaft zu fassen, während der Legionär es am Lauf festhielt. Die Frau biss sich auf die Lippen, nahm all ihre Kraft zusammen und riss die Waffe an sich. Wie gelähmt begriff sie nur allmählich, was geschehen war: Der junge Mann hatte den Lauf losgelassen, seine Hände fuhren in die Luft, als wollte er sich an den Kopf fassen, und ehe sie noch das Gesicht erreichten, fiel er rücklings auf den Asphalt.

      Langsam nur wurde der Journalistin bewusst, dass der Schuss, den sie Sekundenbruchteile zuvor gehört hatte, von ihr selbst ausgelöst worden war. Beim Zurückzerren des Gewehrs musste sie an den Abzug gekommen sein, und jetzt lag der Legionär, den sie getötet hatte, vor ihr auf der Straße.

      Dass er nicht nur verwundet, sondern wirklich tot war, erfasste sie noch, bevor sie die Waffe beiseite warf und sich neben den jungen Menschen hinhockte. Er lag auf dem Rücken, sein geschorener Kinderkopf war unnatürlich und jämmerlich auf die Seite gedreht. Sein stierer Blick starrte leer und über seinen Hals lief ein Blutrinnsal auf die verstaubte Straße. Die Kugel hatte seinen Adamsapfel durchschlagen.

      „Hat beinahe eine Panik ausgelöst, dieser Bastard!“ rief der Offizier und beugte sich über den Toten. „Dieser tschetschenische Köter von einem Panikmacher hat nun mal nichts anderes verdient als einen Hundetod!“

      Doch obgleich er grob und überzeugt sprach, lag in seinen Augen ein teils schuldbewusster, teils vorwurfsvoller Blick, als wolle er, der als erster geschossen hatte, sich selbst und den Umstehenden einreden, richtig gehandelt zu haben, als man auf den Legionär gefeuert hatte. Die Reporterin sah dem jugendlich und sehnig wirkenden Offizier im Hauptmannsrang in die zusammengekniffenen Augen. Mit der sich weit aus dem faltenlosen Gesicht lehnenden Erkernase und fast vornehm zu nennenden grauen Schläfen, die unter dem Mützenrand sichtbar wurden, sah er recht verwegen und eigentlich attraktiv aus, doch seine täppischen Bewegungen machten diesen Eindruck sogleich wieder zunichte.

      „Sie hauen jetzt besser ab!“ forderte er die Reporterin mit einer abschätzigen, linkischen Handbewegung auf. „Auch wenn Sie in Notwehr gehandelt haben.“

      Anica war wie vor den Kopf geschlagen. Trotzdem zögerte sie keinen Augenblick, dem Befehl Folge zu leisten. Ihr Kinn sackte ihr auf die Brust, tief atmete sie ein, stieß ihren heftigen Atem durch prall aufgeblasene Wangen wieder aus.

      Das erste, was sie in diesem Bürgerkrieg vollbracht hatte, war, dass sie einen Menschen umbrachte. Gewiss, ihre Absicht war, ihn zu retten – doch sie hatte ihn getötet! Etwas Sinnloseres, Schrecklicheres konnte sie sich nicht vorstellen.

      Ob sich die Tat je wieder gutmachen ließ, fragte sie sich verzweifelt. Wie kann mir so etwas passieren? Nie hätte ich das von mir gedacht. So war sie nur wenig erleichtert, als sie die Bungalowsiedlung aus zusammengestellten Containern in einer geschützten, abgeschirmten Hanglage erreichte. Doch anmerken lassen wollte sie sich nichts.

      6 Der Wohncontainer der Mayorin

      Burkhart Ball, groß, gutaussehend, ein jüngerer Mann um die dreißig mit kantig vollendeten Körperformen, die durch ein enges Leinen-T-Shirt und straffe Jeans noch betont wurden, empfing sie mit ausgebreiteten Armen. Er lief ihr entgegen und zog sie für einen Augenblick an sich. Anica fühlte sich überrumpelt, zuckte jedoch mit keiner Wimper.

      „Heia, Major Hausmann“, rief sie in aufgeräumtem Tonfall. „Siehst wieder aus wie das Beste, womit sich ein Frauenmagazin in Agfacolor schmücken kann. Hat Mary-Jo dein Ganzbild an der Innenseite ihrer Spindtür hängen? Wo ist sie?“

      „Falls du dich für mich so hübsch gemacht hast, Anica, ist es ganz umsonst.“ Burkhart Ball schien zu spüren, wie sie sich bemühte, die kleine Intimität zu überspielen. Er musterte Anica von oben bis unten, schüttelte den Kopf ihrer verschmutzten und zerrissenen Kleidung wegen. Aus seinen hellgrauen Puppenaugen traf sie ein vorwurfsvoller Blick. Gleich darauf kicherte er, sein glattrasiertes Gesicht zerknitterte in Myriaden von Lachfältchen. Anicas Beine waren immer noch wie aus Watte, und sie hatte immerzu das Gefühl, als hätte sie etwas Wertvolles verloren. Dieses Gespür war ihr ganz sonderbar vertraut; sie musste es gerade so schon einmal empfunden haben.

      „Schon gut, Anica, schon gut. Du kannst später erzählen“, schlug Burkhart Ball vor, und seine Miene glättete sich ein wenig. „Mary-Jo macht sich noch frisch. Die Ärmste! Sie hat sich ja so auf den freien Abend gefreut. Nun muss sie sich Punkt zehn wieder im Stützpunkt melden.“

      „Dann geh ich nachher rüber zum Duschen“, brachte die Reporterin mühsam beherrscht heraus; ihr war eingefallen, wo ihr schon einmal derart zumute war: als sie vor Jahren, ja Jahrzehnten in England zum Hotel zurückgegangen war, nachdem sie den ersten und einzigen Hundekampf ihres Lebens gesehen hatte.

      Burkhart nickte eifrig und fuhr sich mit den Fingern durch seine aschblond-gestylten, nach hinten gekämmten Haarwellen. „Mary-Jo gibt dir neue Klamotten. Übrigens: Eben kommt die Nachricht, der Granatangriff sei von einem ausgerasteten, alkoholisierten Offizier ausgelöst worden, ein einmaliger Ausrutscher.“

      „Ja“, stimmte Anica zu, einigermaßen wieder gefasst, „die Transallmaschinen trudelten gleich wieder ein. Doch ohne Nachspiel wird auch diese dubiose Attacke nicht abgehen.“

      Burkhart Ball nahm die Reporterin beim Arm und führte sie in die Essecke des Wohnzimmers. Die Hi-Fi-Anlage spielte leise Musical-Evergreens, über den Fenstern summte die Klimaanlage.

      Burkhart hatte es verstanden, seinen Geschmack bei der Ausstattung des Wohncontainers durchzusetzen. Anica Klingor fühlte sich in das Haus eines deutschen Durchschnittsbürgers versetzt: eine Wohnlandschaft aus massiven Polstermöbeln, ausgesuchte Reproduktionen moderner Kunst an den Wänden, Bücherregale mit klassischer und neuzeitlicher Literatur, dazu einige in den Basaren zusammengefundene Antiquitäten, die ihre Bezeichnung sogar verdienten, sowie geschmackvolle Teppiche auf hellem Boden. Das glich wenig den üblichen Behausungen britischer oder amerikanischer Offiziere, die sich mit Stahlrohrmobiliar aus PX-Katalogen, etlichen Matten einheimischer Herkunft und Unmengen heimatlichen Zimmerschmucks aus Schottland oder dem mittleren Westen einrichteten, vom Dudelsack und unechten Fünf-Dollar-Indianerskalp über kitschige Stierkampfplakate mit ihren Namen bis hin zum importierten bayrischen Bierseidel, der