Afghanistan, Srebrenica & zurück. Norbert F. Schaaf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert F. Schaaf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844215076
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Niemand wusste, für welche Seite der andere arbeitete. Stets argwöhnte man das schlimmste. Und schloss von sich auf andere, dachte die Journalistin.

      „Sie sind eine außergewöhnliche Auslän...Dame“, sagte Savka, ihr pausbäckiges Gesicht lief rötlich an.

      „Meinst du?“ Anica sah dem Mädchen offen in die dunklen Augen, schmunzelte unmerklich.

      „Sie sind unheimlich schön, und ich weiß, dass Sie unsere Sprache sehr gut beherrschen. Ich habe Sie telefonieren hören.“

      „Hvala i tebi!“ sagte Anica fröhlich, geschmeichelt. „Danke gleichfalls. Und du sprichst ebenso gut die meine. Und sehr hübsch bist du auch.“

      „Machst du auch Fotos von den Zimmermädchen oder von den Jungens?“ wollte Savka mit kokettem Augenaufschlag wissen.

      „Eigentlich nicht“, gab Anica erstaunt zurück. „Warum fragst du?“

      „Doch!“ druckste die Kleine herum. „Djmal sagt, in den internationalen Hotels machen die Fotografen gerne solche Bilder von... Mädchen. Ohne Kleider. Nur in Unterwäsche.“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, fügte flüsternd hinzu: „Djmal sagt, sogar ganz ohne...“

      „So, so“, murmelte Anica. „Sagt das Djmal?“

      „Da, da“, erwiderte Savka mit ein wenig Trotz in der Stimme. „Ja, ja. Und ich kenne selbst ein Mädchen, das einmal viele gute Geldscheine hatte.“

      „Und es hat dir nicht erzählt, woher das Geld kommt?“

      „Razumije se. Selbstverständlich. Von Onkelchen Pavle. Ein Fotograf, er spricht wie du, aber ganz komisch. Und oft dasselbe. Immer soll er sagen: `Ich dich liebe!´ Immer nur: `Ich dich liebe!´ Immer wieder.“

      „Hat... Onkelchen Pavle auch einen Zunamen?“

      Savka zuckte die Achseln.

      „Wie sieht er aus?“ fragte die Journalistin hartnäckig nach.

      „Was ist das?“ fragte das Mädchen unvermittelt statt einer Antwort zurück und deutete auf die Kleincomputeranlage neben dem Telefon.

      „Ein PC-Fax“, gab Anica nachsichtig, bereitwillig Auskunft. „Damit kann ich Bilder durch die Satellitenleitung schicken. Freilich nur einzelne. Doch von diesen lassen sich auch Abzüge machen.“ Sie zeigte auf einen kleinen Stapel Fotos. Die Sache mit diesen Bildern interessiert mich, dachte sie, mal sehen, ob ich irgendwann erfahren kann, was dran ist. Das Mädchen warf einen raschen Blick auf die Vergrößerungen, jedoch war nichts Interessantes für sie dabei. „Siehst du, Savka, du bist neugierig – ich meine das im guten Sinn –‚ du hast Gefühle und du denkst. Schließlich ist es dein Leben und...“

      „Ich muss jetzt gehen“, stieß das Mädchen hastig hervor und war hinter der Tür verschwunden, bevor Anica noch etwas sagen konnte.

      „Onkelchen Pavle...“, murmelte sie. „Doch wohl nicht... dieser Paul...?“ Nachdenklich trocknete sie sich gemächlich ab, bewegte prüfend den Kopf. Der Druck war gewichen. Wohlmeinende Kollegen hatten sie davor gewarnt, kalt zu duschen und gleichzeitig eisgekühltes Wasser zu trinken, es könne zum Gehirnschlag führen. Doch sie fand, wie schon früher in tropischem Klima, dass sie sich auf diese Weise vor allem nach langen, anstrengenden Aktivperioden noch immer am besten erholte. Nettes Mädchen diese Savka, dachte Anica, und sie ist keine Muslimin, sondern praktizierende Katholikin, die den Rosenkranz betet und bestimmt niemals solche Bilder von sich machen lassen würde. Oder vielleicht doch? Jedenfalls soll der Teufel all diese Leute holen mit ihren aufdringlichen Geheimrezepten für eine angemessene Lebensweise hierzulande!

      Prophylaktisch massierte Anica sich die Schläfen, bevor sie den Kleiderschrank öffnete; er starrte sie dunkel-halbleer an, sie strich mit dem Zeigefinger über die wenigen am Bügel hängenden Kleider, als wären es Klaviertasten. Nach etlichem Kopfwägen entschied sie sich für den khakifarbenen Overall aus starkem Drillichtuch, legte ein dunkelgrünes Halstuch um, schlüpfte in die Sandalen und machte sich auf den Weg über den rückwärtigen Hotelausgang.

      4 Die Straßen Sarajevos

      Die Reporterin benutzte den alten, klapprigen Motorroller des verstorbenen Gasthausbesitzers. Er trug noch die Werbeaufschrift und war auch sonst am besten geeignet, sich in der ramponierten Infrastruktur der Olympiastadt zu bewegen. Die Obala Vojvode Stepe wimmelte von Menschen. Scheinbar war ganz Sarajevo auf den Beinen. Der Waffenstillstand wurde – ausgenommen die Heckenschützen – von den Parteien nur tagsüber seit mehr als achtundvierzig Stunden eingehalten, er zerfaserte also bereits wieder wie ein zu lange getragenes Kleid aus schlechtem Material; allenfalls die Artillerie auf den umliegenden Bergen schwieg. Die Fahrzeuge, Personenkraftwagen, Mopeds und Fahrräder sowie der Roller mit der deutschen Journalistin, stauten sich nicht nur vor den Kreuzungen mit ihren zerstörten Ampelanlagen, sondern vor jedem einzelnen Kraterloch der unzähligen Granateneinschläge, die mit aller Vorsicht umfahren sein wollten. Die Autos fuhren Stop and Go, höchstens Schritttempo und behinderten die fließende Fortbewegung der unmotorisierten Verkehrsteilnehmer. Vor und in den Geschäften drängten sich die Leute. Die Läden erinnerten Anica an Garagen; zu ebener Erde gelegen stand ihre gesamte Vorderfront offen. In diesen Schaufenstern ohne Glasscheiben hingen die Waren: Früchte oder Fahrradreifen, Kleidung oder Topfwaren, oft auch alles durcheinander, von allem etwas in jeglichem Geschäft. Nur in den Ständen auf dem Markt war das Sortiment streng spezialisiert, wird gepflegt und sachkundig angeboten – freilich zu phantastischen Preisen in ausschließlich deutscher oder nordamerikanischer Währung.

      Anica spürte auf der Haut die feuchtheiße Luft und die Insekten, die voller Lebenslust in der Sonne von den Abfällen aufschwirrten; hervorgekrochen aus den dunklen Tiefen mancher Hotelbetten, dachte die Journalistin. Sie verspürte wie die meisten Menschen eine sonderbare Niedergeschlagenheit; sonderbar, weil trotz der Trägheit des Körpers der Geist unruhig wachte, als befürchte er drohendes Unheil.

      An den mehrstöckigen Häusern starrten die Hülsen der zerschlagenen Neonreklamen leer herunter, Mauern und Fassaden waren übersät von Einschusslöchern. Neben der schwarzen Punktschrift der Granatlöcher fehlten trotzdem nicht völlig die einschlägigen Werbelogos der Getränke-, Zigaretten- und Modeindustrie, sondern prangten auf improvisierten Sonnenschirmen, als Ladentische dienenden Verpackungskisten und auf koloristischen Plastbeuteln.

      Das lärmende Geschrei der Händler erfüllte die Luft und erinnerte Anica daran, dass sie den orientalischen Basaren hier näher war als dem künstlichen Prunk der westlichen Fußgängerzonen und Shoppingcenter. Kinder jagten sich lärmend auf den schmutzverkrusteten, fleckigen, übelriechenden Gehsteigen. In der Auslage eines Fernsehgeschäfts stand eine Reihe Bildschirme mit demselben Programm: in der bekannten amerikanischen Krimiserie muteten die serbokroatischen Dialoge der Hauptdarsteller recht befremdlich an. Von den Radioempfängern im hinteren Verkaufsraum drang auf die Straße an das Ohr der Rollerfahrerin laute Schlagermusik, die sich in nichts von den Tönen anderer europäischer Metropolen unterschied. Zwischendurch empfahl eine marktschreierische Männerstimme, ein bestimmtes deutsches Waschmittel zu benutzen und sich nur mit Zahncreme amerikanischer Herkunft das Gebiss zu pflegen. In diese polychrome City-Atmosphäre hatte sich Anica rasch eingewöhnt. Lediglich der Kraftverkehr in diesem Getümmel von Zerstörung und Chaos, aber gleichwohl ungebrochenem Lebenswillen, hatte seine Tücken.

      Schlagartig wurde die im Vergleich zu den vergangenen Tagen beinahe idyllisch zu nennende Szene in eine Tragödie verwandelt. Aus heiterem Himmel schoss die serbische Artillerie wie verrückt eine Granate nach der anderen in den Straßenzug. Beißender Qualm erfüllte allmählich die Luft und ätzte der Journalistin die Lungen. Sie stellte abgehackt hustend den Roller ab in das geschlossene Portal eines Gebäudes hinter ein Schild mit der Aufschrift PSYCHIATRISCHE KLINIK.

      „Verfluchte Schweinehunde!“ hörte sie einen Passanten schreien, sah, dass er sich wie alle anderen Menschen schutzsuchend an eine Häuserwand drückte. „Sie schießen sich wieder ein und ausgerechnet bei uns müssen sie anfangen!“

      Anica wusste, die Artillerievorbereitung war damit jedoch bereits zu Ende gegangen. Diesmal wurde hauptsächlich mittelschwere Artillerie eingesetzt, die man nachts überall,