Afghanistan, Srebrenica & zurück. Norbert F. Schaaf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Norbert F. Schaaf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844215076
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denen sie gegeben wurden, Waffenstillstände wurden ständig geschlossen und wieder gebrochen, da zu viele Seiten daran beteiligt waren und zu unterschiedliche Interessen auf dem Spiel standen. Die bosnischen Serben verstanden es ungeheuer gut, ihre Kampftaktik den landschaftlichen und klimatischen Bedingungen anzupassen, so blendend sich auch ihre islamischen Gegner erfolgreich dem feindlichen Verhalten stellten. Es hatte wenig Sinn, sich etwas vorzuspiegeln: Die sogenannten Schutztruppen wurden zwischen den verfeindeten Parteien aufgerieben; sie waren in diesem Land von Feindseligkeit umgeben, darüber konnten lächelnde oder unterwürfige Gesichter nicht hinwegtäuschen. Und die einheimischen Führer waren in ihren eigenen Reihen ebenso machtlos wie bei anderen Volksgruppen unbeliebt. Wer eine Beruhigung der Verhältnisse erwartete, eine Stabilisierung der politischen Macht sowie das Schweigen der Waffen, befand sich im Irrtum. Die Soldaten hielten sich an die relativ gute Löhnung, die der Dienst mit sich brachte. Jedoch war ihr Leben, das bekamen sie zu spüren, sobald sie in das erste heiße Gefecht verwickelt wurden, keinen Schuss Pulver mehr wert. Der Gegner, der nicht einmal aus dem Schatten der schluchtenzerklüfteten Berge trat, um erbarmungslos zuzuschlagen, war mit den militärischen Mitteln der UN nicht zu fassen. Die Hayward-Balls hegten die Erwartung, dass man sich endlich zu dem Entschluss durchringen mochte, die serbischen Stellungen öfter zu bombardieren, noch mehr hofften sie freilich, zusammen mit ihrer Haut den Sold nach Hause hinüberzuretten.

      Mary-Jo war beileibe keine Schafsnase, die nicht wusste, worauf sie sich eingelassen hatte, als sie hierher gegangen war. Oft genug hatte sie den Worten ihres Vaters, eines dekorierten Veterans, gelauscht, um zu wissen, dass es galt, die Zeit unbeschadet zu überstehen. Darin bestand ihre einzige Ideologie und war gleichzeitig ihr praktisches Programm, das sie wie ein Bordcomputer ihrer Maschine herunterzuspulen trachtete. Doch Burkhart machte es ihr schwerer als die Soldatenfrauen ihren Männern, wofür sie Verständnis aufbrachte. Doch was half es, immer und immer wieder darüber nachzugrübeln? Für ihn kam es darauf an, ihr moralisch den Rücken freizuhalten, für sie, gut zu pilotieren und keinen Fehler zu begehen. An die Gefahr, einmal als Geisel genommen und an einen Munitionsschuppen gefesselt zu werden wie schon manch anderer der UN-Truppe, wagte das Ehepaar nicht zu denken, geschweige denn darüber zu reden.

      „Schlafen wir jetzt ein bisschen“, sagte Mary-Jo. Sie ließ sich von ihrem Mann die angerauchte Zigarette aus der Hand nehmen, sah, wie er sie im Aschenbecher zerdrückte.

      „Ich werde den Brief an Mammy schreiben“, sagte Burkhart aufstehend. „Schlafen kann ich ohnehin nicht mehr, Darling. Ich stelle dann die Kaffeemaschine an.“

      Mary-Jo brummelte etwas von Wohnzimmer aufräumen, ohne die Augen zu öffnen. Burkhart schlüpfte aus dem Pyjama, betrachtete sich im Spiegel. Ich nehme zu, dachte er, besah seinen leicht behaarten Körper, bemerkte daneben das Spiegelbild seiner schlafenden Frau. Er fand sie attraktiv, mit wohlproportioniertem Körper, gleichmäßig ovalem Gesicht, wasserblauen Augen unter geschweiften, dunkelblonden Brauen, gerader Nase und vollen, ebenmäßig geschwungenen Lippen, die Mary-Jos Antlitz nicht davor bewahrten, in anderen Augen als denen ihres Mannes harmonisch-langweilig auszusehen. Es reicht, wenn einer von uns beiden schön ist, überlegte Burkhart, aber später, in nicht allzu ferner Zukunft, sollten wir ein Kind haben. Er ging zum Bad hinüber. Gedankenvoll blickte er auf die Ansammlung kosmetischer Artikel. Er musste zugeben, dass mittlerweile mehr als die Hälfte dieser raffiniert ausgeklügelten, in buntes Plastik verpackten Dinge für seinen eigenen Luxus zur Verfügung standen, die er so selbstverständlich einkaufte wie den Lippenstift für seine Frau. Er war auf eine Bahn geraten, die nicht mehr mit früheren Vorstellungen in der Berliner Subkultur seiner Heimat übereinstimmten. In sein Leben war eine attraktive Frau namens Mary-Jo Hayward getreten, die er liebte und die ihm eine ruhige, verständnisvolle Partnerin war, so wie sie sich ihrerseits auf ihn verlassen konnte. Es gab das Zuhause in Mandleville am Lake Pontchartrain gegenüber New Orleans, das Flugmaschinenunternehmen ihres Vaters, einen umfangreichen Bekanntenkreis, sonntägliche Picknicks am Meer, allabendliches Tennisspiel auf eigenem pflegeleichten Hartplatz, die Weekendpartys sowie dann und wann eine Reise in die Rocky Mountains oder an die Großen Seen. Doch das lag weit weg. Die Gegenwart bedeutete der Black Hawk, den Mary-Jo pilotierte, der Talkessel Sarajevos und die Angst. Es war der Preis für alles andere. Er war zu hoch. Doch hatte sich das erst herausgestellt, nachdem der Kauf des Tickets unmöglich rückgängig zu machen war.

      Burkhart trat dicht an den Spiegel heran. Lange durchforschte er sein ovales Jungengesicht, blinzelte in die hellgrauen Puppenaugen. Seine Augäpfel fand er selber schön, er freute sich über sie, über die langen, dichten dunklen Wimpern wie auch über die ebenmäßigen, skeptisch hochgezogenen Brauen, die nur einen Hauch dunkler waren als sein aschblondes Haar; doch ärgerte er sich über seine nicht vollkommen gleichmäßigen, etwas fleischigen Lippen, denn ihm war nicht bewusst, dass gerade sie seinem Jungengesicht einen reifen, erregenden Reiz verliehen.

      Im Bademantel ging Burkhart nach nebenan, um Gläser und Flaschen aus dem Wohnzimmer in die Küche zu räumen. Unwillkürlich dachte er an Anica. Es war richtig gewesen, von ihr wegzugehen, ich hätte niemals das Risiko teilen wollen, das sie auf sich nahm, als sie den Dienst bei der Kriminalpolizei aufgab, um sich freiberuflich zu betätigen. Bei ihrer eigenartigen Ausbildung hatten sich für sie, als Frau noch dazu, wenig Möglichkeiten geboten, und sie hatte sich schwer getan, in den freien Journalistenberuf zu finden mit dem langfristigen Plan, eine eigene Agentur zu gründen. Es war ein schneller, harter Entschluss gewesen, sich von ihr zu trennen. Doch Anica hatte immer Freunde, die es auch blieben, nachdem sie sie verlassen hatten oder sie selbst eigene Wege gegangen war. Für Burkhart nahm sich sein damaliger Entschluss aus wie eine Flucht vom Regenschauer in Gewitterhagel. Der Traum von der Erfüllung des Lebens in Wohlstand und Zufriedenheit, fern aller Gefahr, hatte sich bis jetzt als Utopie herausgestellt. Er liebte kalkulierbare Risiken wie seine Frau und ihren Vater, und war auf prekäre Umwege in eine ruhige, sichere Existenz nicht eingestellt. Er kippte den Inhalt der Aschenbecher in den Mülleimer. Ob Anica mich, wie versprochen, anruft, ehe sie nach Srebrenica reist? Werde ich den Mut aufbringen, ihr zu sagen, worum es mir geht? Mit niemandem habe ich darüber sprechen können, am wenigsten mit Mary-Jo, obwohl sie mich höchstwahrscheinlich würde verstehen können.

      18 Anicas Hotelzimmer

      Anica erhob sich schlaftrunken, taumelte zur Duschkabine. Djmal hatte sie pünktlich geweckt und ihren Alptraum abgebrochen. Nachdem Savka den Jungen behutsam, aber bestimmt aus dem Zimmer gedrängt hatte, blieb das Mädchen an der Tür stehen, um zu fragen: „Kaffee, Gospodjice?“

      „Sehr viel Kaffee, ein Ei, Toast und Peperoni“, rief sie. „Jede Menge Peperoni, auf dass sich die Gefäße öffnen, wie es heißt.“

      Savka begriff nicht, welche Gefäße aufgehen könnten, lief indes fröhlich in die Küche und bestellte das Frühstück. Sie amüsierte sich wieder über die Deutsche, die morgens immer schon in die ungewöhnlich scharfen Schoten biss, die sonst kaum ein Ausländer anrührte. Als das Mädchen mit dem Tablett im Hotelzimmer erschien, spulte Anica gerade ein Band zurück. Savka musste lachen über die lustig rückwärts laufenden Bilder auf dem Monitor, die zeigten, wie menschlicher Kot vom Rinnstein seinen Weg zurück fand in den After dieses älteren Mannes von der Straße unten und die Brotlaibe blitzgeschwind gen Himmel auffuhren, bevor sie schleppend langsam wieder herabschwebten und aus dem Korb verschwanden. Anica dagegen fiel die seltsame Symbolik auf der in falsche Zeitrichtung spielenden Aufnahmen, wo der Zustand vorher besser war als hernach. Sie legte ein zweites Tape ein. Es waren freilich erschütternde, Abscheu erregende Bilder. Ein Freund hatte dringend nach dem Band gefragt; es zeigte eine glatte Schneedecke, in dicke Mäntel und lange Schals gemummte Gestalten kratzten sie mit Spaten ab, bis unter dem Schnee hastig aufgeworfene Brocken gefrorener Erde auftauchten, darunter barfüßige, halbnackte Leiber, von Männern, Frauen und Kindern, mit gequält verrenkten, zur Seite gebogenen Köpfen, mit starren Hälsen, mit ausgestreckten eisigen Armen, mit verkrampften Fingern und schmutzigen Fingernägeln, die noch die Erde zerkratzt hatten, bevor diese Menschen erst zuletzt gestorben waren. Anica erinnerte sich, dass im Spätherbst eine dieser Gruben geöffnet worden waren, um sich davon zu überzeugen, ob die Serben einen bestimmten Gefangenen wirklich erschossen oder nur so getan hatten, während sie ihn tatsächlich zur Zwangsarbeit in ein Lager schickten. Im Frühjahr hatte sie dann mit ihren eigenen Augen den eingesunkenen Boden gesehen, wo die glatte Schneedecke gelegen war und sich nurmehr