Ronald setzte sich wieder auf sein Bett, schlug die Beine übereinander und betrachtete den Fleck auf seinem Bild mit Bedacht. Es war ein dunkelroter, kleiner Klecks in der rechten oberen Ecke. Darauf ein paar verkrümmte Beinchen und in der Mitte des Flecks ein kleines schwarzes Stück, das vor wenigen Augenblicken noch der Rumpf des Tieres gewesen war. Ronald überlegte kurz, ob er den Dreck mit einem Taschentuch wieder entfernen sollte. Doch dann entschied er sich nach eingehenderem Betrachten dazu, dass es sich zusammen mit seiner Zeichnung, die wie die anderen Skizzen auch, alle für so unvorstellbar pervers gehalten hatten, zu einem harmonischen Ganzen zusammen fügte, was nicht unbedingt dazu beitrug, dass die Perversion seiner Skizze dadurch gemindert wurde. Dieses neue Kunstwerk jedoch bekam nun einen Platz ganz oben auf Ronalds Unterlagen, denn es war sein neues Meisterwerk, das ihn künftig zu vielen grandiosen Ideen verhelfen würde. Jetzt galt es lediglich noch, einen passenden Text zu dem Bild zu finden, eine Geschichte, die genau das erzählte, was diese Kadaver-Schmiererei repräsentierte. Daher lag Ronald gedankenverloren auf dem verschmierten Laken in seinen Schweißresten und grübelte. Denn um etwas zu dieser Kunst zu schreiben, musste er selbst erst einmal wissen, was es eigentlich darstellen sollte, also rein künstlerisch interpretiert versteht sich. Langsam wanderte die blaue Mine seines Kugelschreibers über das leere, karierte Blatt.
Es soll…es soll...Ja! Der Klecks ist meine Schwester, ihr zerplatzter Traum von einem Leben an der Seite ihres Ruhm erntenden Bruders! Genial! Und der gefesselte Mensch ist natürlich meine gefangene Seele, die nicht frei kam, solange dieser Schandfleck sein Leben zu überdecken drohte. Die vielen Leute drum herum sind auch meine Schwester, denn sie war einfach immer und überall, um mich fertig zu machen. Es gab kein Entkommen. Das ganze Blut und Sperma, das auf den Gefesselten - also mich - fließt, steht für all die Gemeinheiten, denen ich Zeit meines Lebens hilflos ausgeliefert war. Doch es gelang mir natürlich, mich zu befreien aus ihrer Gefangenschaft und ihrer Allgegenwärtigkeit und ich habe sie bezwungen. Von ihr übrig blieb lediglich dieser kleine schwarze scheiß Fleck da oben in der Ecke. Ohne mich und die Möglichkeit, mich permanent zu schikanieren, ist ihr Leben in ihren Augen völlig wertlos und sie musste sterben.
Ronald war von seiner Interpretation überwältigt. Sollte noch mal einer sagen, er habe kein Talent. Diese Deutung war wohl der endgültige Beweis des Gegenteils, das würde sich auch der letzte eiserne Kritiker eingestehen müssen, wenn er das zu lesen bekommen hatte. Dafür musste er sein Gedankengut aber mit all seiner Genialität erst noch zu Papier bringen. Wie immer war es der Anfang, der Ronald schwer zu schaffen machte. Sollte es überhaupt eine Einleitung geben oder sollte er vielleicht lieber direkt mitten im Geschehen beginnen? Wie sollte das Ganze überhaupt aufgebaut werden, aus welcher Perspektive geschrieben? Auf dem Cover würde später auf jeden Fall seine Zeichnung zu sehen sein und sowohl die Liebhaber der Literatur als auch die der Kunst wären allesamt begeistert von so viel kreativem Potential, das in diesem jungen Nachwuchsautor steckte. Vielleicht war es aber doch besser irgendwo im Buch aufgehoben, damit es mehr zur Geltung kam und nicht sofort der ganzen Geschichte alles vorweg nehmen konnte? Immerhin bestand die Möglichkeit, dass es den einen oder anderen geben würde, der Ronalds Bild genauso im Stande war zu interpretieren, wie Roland es beabsichtigte und dann würde sich jeder über ihn lustig machen, warum er den wichtigsten Teil seines Buches ausgerechnet als Cover wählte. Dann bräuchte ja niemand mehr seinen Roman, seine Kurzgeschichte... SEIN WERK lesen.
Wie auch immer, über Details konnte man sich später immer noch den Kopf zerbrechen. In jedem Fall würden sich die Kritiker vor Beifall überschlagen und in den Nachrichten würde er gepriesen als der geborene Millenniumsautor, der Messias des geschriebenen Wortes, der Heilige unter allen bislang da gewesenen Schriftstellern. Nein, mehr noch, er wäre der SCHRIFTKÜNSTLER unter ihnen, denn niemand würde seine Werke künstlerisch besser gestalten können als er. Seine Geschichten würden sich lesen wie Gemälde, von denen man die Blicke nicht abwenden können würde. Werke voller Farben und Tiefe, voller Schönheit und Pracht. Besser zu sein als er würde für alle nach ihm folgenden Schriftsteller ein unerreichbares Ziel darstellen...Doch bevor Ronald endgültig in Fantasien versank, musste die ganze Geschichte nun endlich zu Papier gebracht werden, danach bliebe ihm noch genug Zeit für Träumereien. Grobe Skizzen sollten für den Anfang reichen, beschloss er schließlich, denn die Hauptsache war, dass er seine Gedankengänge nicht vergaß. Dem Ausschmücken könne man sich später immer noch widmen, solange das Grundgerüst eine solide Basis bildete. So schrieb er mit kleinen Buchstaben alles Wichtige auf das Papier, was für die Geschichte von Bedeutung war, bis ihm schließlich vor Müdigkeit die Augen zu fielen.
Das Einzige, was Ronald an der neuen Situation zu Hause störte war die Tatsache, dass seine Mutter ihn nun noch mehr betüddelte, als sie es zu Barbaras Zeiten bereits getan hatte. Das machte sich vor allem an Ronalds Gewicht bemerkbar, das nun, bei seinem Alter von vierzehn Jahren, stattliche 120 kg auf die Waage brachte und das bei einer Größe von gerade mal 1,60 m. Ronald genoss zwar den Service, noch mehr zu bekommen als alles, was er wollte, immerhin sollte so etwas einem künftigen Mann von Welt durchaus gegönnt sein. Aber langsam nervte es ihn, seit einem Jahr immer wieder die gleiche Frage von seiner Mutter gestellt zu bekommen: „Fehlt dir noch etwas, mein Engelchen?“ In diesen Momenten war Ronald jedes Mal froh, keine Freunde zu haben. Wie peinlich wäre es sonst, würde sie ihm diese Frage stellen, wenn jemand zu Besuch da war? Gar nicht auszudenken! Aber allein für ihr ganzes Fehlverhalten war seiner Mutter auf jeden Fall ein Platz in seinem Buch sicher. Für jedes „Engelchen“ würde er sich literarisch an ihr rächen. Sie würde schon nicht zu kurz kommen in seiner Geschichte. Dafür hatte sie ihn viel zu sehr auf die Palme gebracht mit all ihrem dämlichen Verhalten, das sie tagein tagaus aller Welt vorspielte. Ronald konnte sich nicht vorstellen, dass es tatsächlich Menschen geben sollte, die wirklich vom Wesen her so waren wie seine Mutter, das war einfach nur absurd. Außerdem brachte ihre gesamte Fürsorge Ronald um seine Kreativität. Wie sollte er unter diesen Umständen ein Buch über Wut, Hass, Enttäuschung und Rache zustande bringen? Niemand sollte später erahnen, dass dieser Roman von ENGELCHEN verfasst wurde!
Erst im Nachhinein, drei Jahre später, wurde Ronald klar, dass seine Mutter all ihre Liebe und Zuneigung ihm gegenüber wirklich nicht mit bösen Absichten ihm zuteilwerden ließ. Es war nie ihre Absicht gewesen, ihn durch ihr Verhätscheln und das behütende Gehabe von seiner Arbeit abzulenken, fern zu halten oder gar abzubringen. Sie hatte es zwar zweifelsohne für pervers und krank gehalten, was ihr Sohn voller Stolz als sein Werk bezeichnete, doch sie hatte immer hinter ihm gestanden und versucht, ihn dabei zu unterstützen, auch wenn es ihr insgeheim widerstrebte. Denn sie war stets der Auffassung gewesen, solange ihr Junge diesen abartigen Trieben, über die er schrieb, nur mit Tinte auf Papier nachging, machte er ja nichts Unrechtes oder sogar Kriminelles. Auf diese Weise käme wenigstens niemand ernsthaft zu Schaden, versuchte sie krampfhaft ihr Gemüt zu besänftigen.
Auch waren die liebevollen Taten von Ronalds Mutter ihrem Sohn gegenüber keine Folgen eines schlechten Gewissens, das sie vielleicht hätte plagen sollen, weil sie ihre einzige Tochter, ihr erstgeborenes Kind, die verstoßene Schwester, aus der Familie verbannt hatte. Im eigentlichen Sinne war es ein durchaus trauriger Gedanke, wenn man überlegte, dass eine Mutter, die ihr Kind neun Monate unter ihrem Herz trug, es nach Jahren des Großziehens ohne mit der Wimper zu zucken von jetzt auf gleich vor die Tür setzte. Sie hatte ihrer Tochter bei deren Weg in die-wenn auch gezwungene-Selbstständigkeit keine einzige Träne nachgeweint. Auch wenn dieser Schritt nicht freiwillig gemacht wurde, so sollte doch zumindest anzunehmen sein, dass die Angehörigen diesen bis dahin geliebten Mensch würdevoll verabschieden und nicht, wie in Barbaras Fall, froh darüber sind, dass sie endlich fort war und von nun an keinen Teil der Familie mehr bildete. Nicht, dass Ronald diese Erkenntnis jemals gestört hätte, er wunderte sich nicht einmal darüber, es geisterte ihm nur gelegentlich im Kopf umher. Denn eigentlich hatte Barbara nie etwas Schlimmes verbrochen, außer ihn zu quälen, aber das war er ja selbst schuld gewesen, wie er immer glaubte. Auch fand Ronald es nie schlimm,