Als seine Mutter das laute Lachen hörte, schlug ihre Anspannung in Erleichterung um. Wenn jemand so herzlich lachte, konnte es ja nichts Schlimmes sein und sie war neugierig geworden, was Barbara in der Küche so Lustiges gefunden hatte. Also ging sie hinein, um zu sehen, was los sei. Und auch Ronald stürmte zur Küchentür, vom verzweifelten Versuch getrieben, noch retten zu können, was längst verloren zu sein schien. Wenn seine Schwester schon all seine Arbeit gesehen hatte, sollte es wenigstens vor der Mutter im Verborgenen bleiben. Aber er kam zu spät! Als er die Tür aufriss, stand sie da mit weit aufgerissenen Augen und hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund. Sie konnte ihre Blicke nicht abwenden von dem bekritzelten Karopapier, das seine Schwester ihr triumphierend entgegen streckte. Ronalds Mutter saß der Schock in den Knochen. Was waren das für abartige Zeichnungen? Nackte Menschen, über und über mit Blut? Körperteile, die ihnen fehlten. Und erst die Texte darüber. Das konnte nicht von ihrem Sohn sein, nein, das musste Barbara unter das harmlose oberste Blatt gelegt haben, auf dem lediglich „Ronalds Arbeit-Streng geheim!“ mit dickem, schwarzem Stift geschrieben stand. Sie wollte es so gern glauben, dass es so war, doch es war alles die Handschrift ihres süßen, kleinen Engels. Sie sah ihn mit entsetztem Blick an. „Junge!“, brachte sie nur heraus, für alle weiteren Worte fehlte ihr die Kraft. Stattdessen schüttelte sie ungläubig den Kopf. Barbara nutzte die Chance. „Du hast dich so lange in deinem Zimmer verbarrikadiert für so einen lächerlichen Kurzporno? Wie erbärmlich bist du eigentlich?“,
fragte Barbara ihren Bruder und ihr gehässiges Grinsen zog sich über das ganze Gesicht. Er konnte sich nicht regen, alles in ihm war starr. Als sei die Situation nicht schon Demütigung genug, begann Barbara auch noch, die Zettel einen nach dem anderen durchzugehen und einige Passagen laut vorzulesen, damit die Mutter endlich ein Bild davon bekam, was ihr kleiner Fratz für ein grausames und verstörtes Kind war. Jetzt noch Stellung zu beziehen oder zu versuchen, die Situation zu entschärfen, war zwecklos. Deshalb entschloss Ronald sich, das zu tun, was er schon immer am besten konnte - wegrennen. Er würde so lange weg bleiben, bis alles nur noch halb so schlimm für ihn war, das hatte ihn bislang doch immer retten können. Nur würde er jetzt länger als sonst weg bleiben müssen, dessen war er sich bewusst. Es war einfach zu peinlich und er wollte nicht sehen, wie seine Mutter sich für ihn schämte. Aber erst recht wollte er nicht, dass Barbara sah, wie er weinte. So schnell seine schwabbeligen Beine sein starkes Übergewicht tragen konnten, rannte er in den Park und versteckte sich hinter der Mauer. Hier würde er bleiben für den Rest des Tages. Oder den Rest seines Lebens. So genau wusste er es noch nicht.
Ronald hasste sich selbst für sein unvorsichtiges Verhalten. Er hätte die Tür abschließen sollen. Er hätte die Skizzen besser verstecken können. Er hätte seiner Mutter auch einfach sagen können, sie solle aus seinem Zimmer bleiben, egal, wie es dort aussah. Gut, er hätte es vielleicht auch nicht so vermüllen müssen, dann wäre sie seinem Zimmer auch weiterhin fern geblieben und hätte das darin befindliche übliche Chaos als kleine Rebellion ihres Sprösslings angesehen, der nun langsam erwachsen wird. Womöglich hätte sie es dann sogar noch süß gefunden. Aber dass ausgerechnet Barbara ihm so übel an den Karren pisste, es war...es...ja, es machte ihn stolz und freute ihn regelrecht! Zum ersten Mal nach Langem hatte sie ihm wieder Beachtung geschenkt! Sie hatte ihn nicht mit Ignoranz und Gleichgültigkeit gestraft, sondern war wieder in ihr altes Muster zurück gefallen und wieder Freude daran gefunden, ihn zu schikanieren. Ronald wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg vom Gesicht und seinem wulstigen Stückchen Hals. Ein kleines Lächeln huschte ihm über die Lippen. „Sie hat mich wieder lieb!“, schoss es ihm freudig durch den Kopf. So gern er auch im Küchenboden versunken wäre vor Scham, ihr Verhalten hatte dennoch gezeigt, dass er ihr nicht gänzlich egal geworden war, wie er befürchtet hatte. Sie liebte ihn noch, auf ihre ganze eigene Art und Weise, da war Ronald sich sicher. Diese Erkenntnis gab ihm Kraft genug, sich aufzuraffen und mit stolz geschwellter Brust den Heimweg anzutreten, wo ihn bereits die nächste Überraschung erwartete.
Ronald zog schnell seinen Papierkram vom Tisch und klemmte ihn sogleich unter den rechten Arm. Schnellen Schrittes hastete er die Stufen hinauf in sein Zimmer. Dieses Mal dachte er daran, die Tür hinter sich zu verschließen, sicher ist sicher, das hatte er nun begriffen. Während er seine gesamten Memoiren freudig in den wurstigen Fingern hielt, vernahm er deutlich das donnernde Toben seines Vaters, das weinerliche Winseln seiner Mutter und die pädagogisch korrekten Äußerungen der Lehrerin, das alles zusammen wie eine geplatzte schwere Wolke auf die eigentlich ja unschuldige Schwester nieder regnete. All ihre Rechtfertigungsversuche wurden von jeder Partei in der Luft zerfetzt und zerschmetterten wie Hagelkörner auf hartem Asphalt, so widerstandsfähig war die Gewissheit der Erwachsenen, den Übeltäter auf frischer Tat ertappt zu haben. Wie konnte seine Schwester es nur zulassen, dass derartige Perversionen in die Hände ihres kleinen Bruders fallen konnten? Wie kam sie überhaupt auf die Idee, sich bei sexuellen Handlungen filmen zu lassen und dass sie diese auch noch völlig frei zugänglich überall herum liegen ließ? Barbaras Stimme verstummte allmählich, sie gab es auf, darauf zu beharren, dass Ronald gelogen hatte, um seinen fetten Hintern auf ihre Kosten zu retten. Nun war es also ihre Schuld, dass der Junge an Übergewicht litt, schlecht in der Schule war, sich missverstanden fühlte, gestört war und sich auf dem Schulhof hinter dem Klo als Lustobjekt verkaufte. Bei dem Gedanken schauerte es ihr. Wer zur Hölle würde Ronald ernsthaft bezahlen für das Busen anfassen? Obwohl, wenn sie genauer darüber nachdachte, die Kerle an ihrer Schule waren doch eh alle gestört, da gab es bestimmt genug Schüler, wenn nicht sogar Lehrer, die das Angebot gern dankbar annahmen. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Ronald sich der Preise, die eine gewöhnliche Prostituierte für derartige Machenschaften verlangte, auskannte. Sie unterstellte ihrem Bruder daher kurzerhand, dass er seinen Körper für Dumpingpreise verhökerte und wollte gedanklich auch gar nicht weiter ins Detail gehen, was in Ronalds krankem Kopf wohl noch so umher spukte, für das er hätte Geld verlangen können. Aber sie traute es ihm durchaus zu, darin bestand kein Zweifel.
Während aus dem Wohnzimmer die Beschimpfungen noch deutlich zu hören waren, saß Ronald auf seinem Bett und lauschte halbherzig den zornigen Anschuldigungen, die sein Vater Barbara nur so um die Ohren knallte. Ein wenig missgönnte Ronald seiner Schwester die Tatsache, dass ihr nun die ganze Aufmerksamkeit beider Eltern und der Lehrerin gewidmet wurde, während er allein in seinem Zimmer hockte. Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es bald vorbei sein würde und Barbara fortan mit Missachtung von allen Seiten gestraft wäre, während sich jeder der unten Anwesenden-mit Ausnahme von Barbara natürlich – sorgsam um den kleinen übergewichtigen Jungen kümmerten. Ronald malte sich schon aus, welche Freiheiten dies künftig mit sich führen würde, was er alles verlangen könnte, bis es eines Tages heißen wird, er habe jetzt lange genug darauf herum geritten, dass seine Schwester ihn in seiner Entwicklung so maßgeblich verstört habe. Wie er seine Eltern kannte, würde es vor allem von Seiten seiner Mutter sehr lange dauern, bis dieser Punkt schließlich endlich erreicht sei. Und bei seinem Vater? Sich darüber Gedanken zu machen war pure Verschwendung, denn es würde ihn bereits jetzt nichts mehr kümmern.
Ronald nutzte die Ruhe, die er nun genoss, während unten der verbale Sturm tobte, um sich ganz seiner Kreativität zu widmen. Wie leise Bässe dröhnte das Geschrei aus dem Wohnzimmer, das jeden Moment vollends zu eskalieren drohte. Ronald nutzte die Beflügelung der ungewohnten Melodien, um seine Gedanken schweifen zu lassen. Er saß mit dem Rücken zur Wand auf dem frisch bezogenen Bett, das nach billigem Waschpulver roch. Seine wulstigen Beine wibbelten im Takt des Stimmgewirrs aus dem Erdgeschoss. Um sich herum hatte er seine Papiere ausgebreitet und kaute geistesabwesend auf seinem Bleistift herum.
Sie fanden es obszön. Schockierend detailliert und trotzdem zu langweilig, als dass sie sich eingehender damit hätten auseinander setzten wollen. Stattdessen sorgte man sich um seinen derzeitigen Gemütszustand. Er hatte Hunger, aber ansonsten war bei Ronald alles in Ordnung und für völlig normal hielt er sich sowieso, zumindest weitestgehend. Kein Grund also, in Panik auszubrechen, der Junge brauche professionelle Hilfe, um die Pubertät halbwegs stabilisiert zu überstehen.