Das Laub begann seine Farbe zu wechseln, der September neigte sich dem Ende zu. Langsam mischten sich braungelbe Flecken unter das Grün, und die Tage wurden kürzer. Mit den Herbstwinden wurden wir übermütig. Wir hatten Schulter an Schulter im Gras gelegen und den ersten Zugvögeln bei ihrer Reise gen Süden nachgeschaut, als Sebastian sagte: »Stell dir vor, du könntest fliegen! Wäre das nicht herrlich? Einfach so von Land zu Land, keine Grenzen, völlig frei ... Und wo’s dir gefällt, da bleibst du eine Weile. Bis du Lust hast, weiter zu ziehen. Wohin würdest du fliegen wollen?«
Visionen von verwüsteten Landschaften, über die ich hinweg glitt, tauchten jäh vor mir auf. Henni, die eingerollt friedlich auf meinem Bauch geschlummert hatte, sprang mit einem Kläffen auf. Die Bilder von flammenden Feldern und verkohlten Baumskeletten enthüllten eine Drohung, und um sie zu verwischen, damit sie keine Macht bekamen, sagte ich schnell: »Ich glaube nicht, dass wir zum Fliegen geschaffen sind.«
Henni hatte sich an Sebastians Seite verkrochen.
»Da magst du Recht haben. Hier unten im Gras gefällt es mir gerade auch ganz gut.« Er zwinkerte mir zu. »Aber ich habe eine Idee.«
Die Bilder in meinem Kopf verblassten. Sebastian kraulte der Hündin den Nacken, dehnte die Pause genussvoll aus und wartete, bis meine Neugier wuchs.
»Nun sag schon!«
»Lass uns Drachen bauen! Die können für uns den Himmel erobern, während wir brav am Boden bleiben.«
Was für ein Einfall! Noch am selben Abend stibitzten wir Martha ein altes Laken aus dem Wäscheschrank, bestrichen das Leinen vorsichtig mit verdünntem Kleister, klebten vier federleichte Holzstäbe zu zwei Kreuzen zusammen und zogen die zurechtgeschnittenen Stoffteile darauf auf. Immer wieder berührten sich unsere Hände bei der Arbeit, mal aus Versehen, meistens aus purer Absicht. Säuberlich schlugen wir die Stoffkanten um und während alles trocknete, falteten wir aus Zeitungspapier Schleifen für die Drachenschwänze. Beim Krämer im Dorf besorgten wir uns am nächsten Tag feinste Angelschnur, und den Meister erleichterten wir heimlich um eine Flasche von seinem besten Roten.
Mit unseren Drachen, der Flasche Wein, zwei Bechern und einem großen Stück Käse zogen wir los und suchten nach einem Platz, der uns zusagte.
Wir hatten den See schon halb umrundet, und die Birken warfen lange Schatten, als wir eine stille, friedliche Wiese fanden. Ich war früher schon einmal hier gewesen. Doch mit dem Freund an meiner Seite war es anders. Der Ort wurde zu etwas Besonderem.
Der Wind fuhr in sanften Böen durch die Baumkronen und ließ die Blätter rauschen. Henni sprang voraus, bellte verspielt und scheuchte eine Entenfamilie auf, die sich schimpfend aufs Wasser flüchtete. Ein paar Krähen schrien.
In der einsetzenden Abenddämmerung liefen wir durch das Gras und zogen unsere Drachen, die mühelos aufstiegen, hinter uns her. Wir gaben ihnen Stück für Stück mehr Leine und sahen zu, wie der neugierige Wind, der sie schnell höher trug, besitzergreifend an ihnen zog.
Dann stießen wir zwei Äste in den Boden, banden die Schnüre daran fest und überließen die Drachen sich selbst und den Lüften. Sebastian zog sein Hemd aus, legte es ins Gras und setzte sich darauf. Ich tat es ihm gleich. Er packte Wein und Käse aus, schenkte die Becher voll und stieß mit mir an.
»Auf das Leben!«, rief er laut.
»Auf das Leben! Auf die Schreinerei! Auf den Meister, der uns den Wein spendiert hat! Auf die Wanderschaft, die dich hierher geführt hat! Auf dich! Soll alles so bleiben, wie es ist!«, übertrumpfte ich ihn.
Der Rotwein war süffig und stieg mir schnell zu Kopf. Bald hatte ich das Gefühl, dass mein Gesicht glühte. Sebastian schnitt mit seinem Klappmesser Stück um Stück von dem Käse ab und reichte es abwechselnd mir, dann steckte er sich selbst eins in den Mund.
Während wir in den Himmel schauten, begannen wir herumzualbern. Wir machten Scherze und dachten uns Namen für unsere Drachen aus: Caesar und Kleopatra zum Beispiel, Siegfried und Kriemhild oder gar Pfarrer Michels und Fräulein Rinker. Die Fantasie ging mit uns durch und wir versuchten, uns gegenseitig mit den verrücktesten Einfällen zu überbieten.
Irgendwann rief ich: »Jetzt weiß ich! Ich nenne ihn einfach Sebastian.«
Er strahlte mich an. Auf seiner Wange, dort, wo bei mir die Narbe saß, zeigte sich ein Grübchen.
»Dann soll meiner Adam heißen. Das ist gut! Adam und Sebastian fliegen durch die Luft!«
Die Welt schien mir vollkommen, alles war gut, so wie es war. Der Wind, die Bäume, der Himmel. Sebastian und ich.
Aus dem Unterholz am Waldrand hörte ich Zweige knacken. Ich sah ein Eichhörnchen flink eine Eiche hochklettern und im Blattwerk der Krone verschwinden. Ein Krähenschwarm flog aufgeregt auf. Aus dem Schwarm löste sich ein einzelner Vogel, größer als die anderen, und stieß mit zornigem Gekrächze auf meinen Drachen herab. Die Bespannung riss auf, der Drache trudelte in weiten Spiralen zur Erde und seine Schnur verhedderte sich mit der des anderen. Beide Fluggeräte gerieten ins Taumeln, und schließlich krachten sie am Fuße eines Baumes auf die Erde.
Wir rannten zu der Stelle, um den Schaden zu begutachten, doch offensichtlich war nichts mehr zu retten. Henni schnüffelte neugierig an den zertrümmerten Teilen. Sebastian bückte sich und hob das heillose Gewirr aus Stoff, Schnur und zersplitterten Stäben hoch.
»Weißt du, Adam, ich liebe dich.«
Er sagte es, als sei es selbstverständlich. Völlig unbeschwert und fröhlich klangen sein Worte.
»Und wenn ich einmal sterben muss, dann soll es genau so enden: Arm in Arm mit dir vom Himmel stürzen«, lachte er.
Ich schaute dem schwarzgefiederten Teufel, der über uns kreischend seine Kreise zog, hinterher. Dann sah ich ihn an und sagte: »Ja.«
Wenn ich heute zurück blicke, weiß ich, dass auch ich ihn liebte – vielleicht nicht mit dieser unschuldigen Aufrichtigkeit, die er mir entgegenbrachte und die ihn beinah das Leben gekostet hätte, weil sie mit ihrer Reinheit den Neid des Teufels hervorrief. Aber doch auf diese, in meinem Leben einzigartige, mir so uneigennützig wie mögliche Weise. Am Tag des jüngsten Gerichts allerdings, und daran, dass dieser Tag kommen wird, hege ich keine Zweifel mehr, wenn ich also vor Gericht stehe, wird dieses kleine bisschen Liebe, das auf der einen Seite in die Waagschale gelegt werden wird, nur unwesentlich zu meinen Gunsten beitragen, denn alles andere, jede einzelne meiner vielen Sünden wiegt ungleich viel mehr als die Summe all meiner guten Taten oder Eigenschaften. So wird Gott mich gleich zweimal trennen von denen, die mir etwas bedeuteten – erst in diesem, dann auch im nächsten Leben. Und das wird, allen Feuerqualen der Hölle zum Trotz, die schlimmste aller Strafen sein.
Der Michaelistag kam, und am darauf folgenden Sonntag feierte man im Dorf das Erntedankfest.
Die Hauptstraße und der Kirchplatz waren reich mit farbenfrohen Teppichen aus Gräsern, Getreide und Blüten geschmückt; bei der Prozession wurde die prächtige Erntekrone aus geflochtenen Ähren feierlich von sechs Männern auf einer Bahre in die Kirche getragen, und Pfarrer Michels Rede war gegen seine üblichen Gepflogenheiten einmal weniger von Verdammnis und Sündenfall geprägt, sondern war voll des Lobes und des Dankes an den Schöpfer und klang fast schon heiter, ja beschwingt.
»Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten«, endete er seine Predigt.
Die Ernte war in diesem Jahr auch ohne Tränen sehr üppig ausgefallen, und entsprechend gut gelaunt wurde nach der Messe gefeiert.
Der Tag war sonnig und ausgesprochen mild. Das ganze Dorf war auf den Beinen, schleppte Tische und Stühle auf den Platz, und aus jedem Haus trugen die Frauen Brote, Suppen, Braten und Pasteten herbei, wobei es schien, dass jede von ihnen versucht hatte, die Nachbarin mit den gebackenen, gebratenen und gesottenen Köstlichkeiten zu übertreffen. Die besten Kuchen hatte zweifelsohne Phillip, Elenas Mann, gebacken, doch auch die vielen anderen Leckereien ließen keine Wünsche offen.