Sie wurde knallrot. Noch nie, noch nie zuvor war ein Mann so offensiv ihr gegenüber gewesen und sie wollte unbedingt hören, was er hatte sagen wollen in diesem letzten Satz, darum fragte sie forschend weiter: „Du könntest mich hier jetzt gleich was?“
Sag nichts Falsches, Christoph, sag nichts Falsches, du kennst sie nicht, das könnte eine Falle sein. Sag auf gar keinen Fall, was du sie jetzt wirklich könntest, was du nur zu gerne tun würdest. Brems, zieh die Leine!
„Ich könnte dich hier jetzt gleich - “, er zögerte.
Sie sah ihm seinen inneren Kampf deutlich an, sie sah, wie er sich schließlich geschlagen gab, mit hängenden Schultern und seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger bearbeitend, bekannte: „Küssen, während dein Mann nebenan sitzt.“ Nun war es raus, und er war froh, das nur das unschuldige Verblein küssen aus seinem Mund gekommen war. Gleichzeitig mussten seine Ohren glühen. Glücklicherweise gab es in diesem Büro keinen Spiegel.
„Das soll wohl ein Scherz sein!“, gab sie brüsk zurück.
„Das ist kein Scherz! Ich war schon letzte Woche ganz kurz davor.“ Nun schoss auch ihm das Blut in die Wangen. Sie registrierte es mit Genugtuung. Nun hatte sie es quasi schriftlich. Der Zeitpunkt einer Entscheidung war da und ohne noch lange zu überlegen sagte sie fordernd:
„Dann tu's doch“. Ich will wissen, wie es ist.
„Los, wir sind ganz allein“, ermutigte sie ihn weiter.
„Was?“, stammelte er verwirrt.
„Komm her und küss mich, wenn du dich traust“, wiederholte sie leise ihr Angebot. Hast DU das gesagt? Bist du nicht mehr ganz bei Trost? Kirsten, was machst du denn? Du wolltest doch nur wissen, wie weit es gehen würde, und nun hast du deine Antwort, also beende das jetzt. Das ist genug. - Nein, ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn man einen Kuss von einem Mann bekommt, der einen so anschaut.
„Das meinst du doch nicht ernst!“, sagte er mit gerunzelter Stirn.
Sie schwieg, abwartend, gespannt bis in die kleinste Faser. Doch, sie meinte es ernst, sehr ernst.
Skeptisch sah er sie an, dann erhob er sich langsam, zögernd.
„Und dann langst du mir eine und läufst schreiend weg und erzählst allen da draußen, dass ich dich vergewaltigen wollte, was?“ Er lächelte unsicher, versuchte, die brisante Situation durch Witze zu entschärfen.
„Quatsch!“
„Du willst ernsthaft, dass ich dich küsse?“ Seine Miene war kritisch. Voller Argwohn blickte er sie an.
Ja, sie wollte ernsthaft einen Kuss von ihm. Nur einen, was ist schon dabei?
„Nur einen“, gab sie kleinlaut zu. Vielleicht ist das doch keine gute Idee. Vielleicht solltest du doch besser gehen.
„Und was bringt dir das?“, hakte er nach. Das klang einfach zu schön, um wahr zu sein. Aber es klang auch sehr nach Verarsche. Und benutzen lassen wollte er sich auch nicht einfach, dann lieber mit Stolz untergehen.
„Herrgott, stell doch nicht so viele Fragen! In den Filmen tun es die Männer einfach immer und du diskutierst erst stundenlang. Wenn du nicht willst, dann sag es einfach.“
Prüfend ging er einen Schritt auf sie zu, zweifelnd blieb er wieder stehen.
„Ich will ja, aber ich lasse mich nicht gerne benutzen“, gestand er. „Genau genommen lasse ich mich nicht gerne verletzen", fügte er leise hinzu.
„Ich will dich nicht benutzen und erst recht nicht verletzen.“ Doch, genau das willst du und das wirst du.
Nun war sie es, die den letzten Schritt auf ihn zumachte. Die Nähe seines Körpers war beinahe unerträglich. Kirsten! Dreh um und geh raus, weg von hier! Das ist unfair allen gegenüber! - Nur das eine Mal! Was ist schon dabei!
Unbeholfen standen sie sich gegenüber, unschlüssig, was zu tun war.
Kirsten, er steht direkt vor dir und er tut es noch, mach was dagegen! - NEIN, verdammt. Ich will es so!
Ihr Herz schlug so heftig, dass sie glaubte, ihr Brustkorb würde unter seinen Schlägen erzittern. Bis eben hatte sie sich ganz großartig gefühlt, als Herrin über die Situation. Als er so nah vor ihr stand, änderte sich ihre Wahrnehmung in einem Sekundenbruchteil, denn sie konnte sich nicht mehr rühren: Sie war das Kaninchen, er die Schlange, schön bunt anzusehen, aber giftig, gefährlich. Doch das süße Kaninchen war selbst schuld, es hatte die Schlange herbeigelockt. Und er zog sie so übermenschlich an, dass sie ihn am liebsten umschlungen und nie mehr losgelassen hätte.
Er neigte seinen Kopf zu ihrem, zögerte wieder und – küsste sie.
Ganz zart zuerst. Und sie ließ es in der Tat zu, sie hielt ihm zaghaft stand und knallte ihm keine, wie er es durchaus einkalkuliert hatte. Seine warmen weichen Lippen drückten sich ganz sanft gegen ihre, und er roch so gut. Noch nie hatte jemand sie so sanft geküsst, es war mehr ein Hauch als ein wirklicher Kuss.
Als sie sich nicht sträubte, zog er sie zögernd an sich und positionierte eine Hand vorsichtig in ihrem Nacken, die andere verdächtig dicht und mit etwas festerem Griff oberhalb ihres Pos. Ihre Passivität ermutigte ihn, wenn auch nur ein bisschen, denn schließlich schob sie ihn immer noch nicht von sich und rannte schreiend davon oder traktierte ihn mit den Absätzen ihrer Schuhe.
Und dann wagte sie sich vor, erwiderte seinen zuckersüßen Kuss, der einfach zu süß war, um zu widerstehen, und schmiegte sich vorsichtig an ihn.
In ihr schrillten alle Glocken durcheinander: Was tust du da, du Verrückte?, rief ihr Verstand. Genieß es, sagte ihre romantische Ader. Öffne endlich deine Lippen, mischte ihr Körper sich ein. Und ihr Herz, befreit aus dem finsteren, kalten Verlies der Burg Florian, hüpfte einfach nur vor Freude.
Langsam schob sie ihre Zunge vor und er tat es ihr gleich. So hatte sie seit Jahren kein Mann mehr geküsst und so hatte sie seit Jahren keinen Kuss mehr erwidert. Der Fußboden schien aus Watte zu bestehen. Irgendwie setzte sich der Raum in Bewegung und in ihr wurden drei Sätze mit jeder Sekunde, die verstrich, lauter: DAS IST ER! DAS IST ES! SO MUSS ES SEIN!
Sie zu küssen übertraf alle Erwartungen, die er an den heutigen Abend geknüpft hatte. Das kühnste, was er sich ausgemalt hatte, war eine zugesteckte Telefonnummer gewesen, aber gewiss kein leidenschaftliches Geknutsche in seinem Büro.
Innerlich hallte Jubelgeschrei durch seinen Kopf: „BINGO! Du bist im Spiel!"
Als sie ihre Lippen und Zungen wieder voneinander lösten, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Draußen dudelte hartnäckig die Musik, jetzt war einer dieser gruseligen Kinderchöre an der Reihe und verhunzte Gloria in exselsis deo, und das Stimmengewirr war nach dem gefräßigen Schweigen wieder angeschwollen, der Alkohol lockerte langsam die steifen Zungen.
Doch noch ein anderes Geräusch mischte sich ein in den Reigen, ein lustvolles Stöhnen.
Christoph schien es nicht zu hören, denn er stand nur ganz nah vor ihr mit Spuren von ihrem verschmierten Lipgloss auf seinen Lippen und lächelte sie verunsichert aus seinem erhitzten Gesicht an. Seine Hände hielten Kirsten immer noch fest. Zufrieden merkte er, dass sie beide schneller atmeten.
Doch sie hörte es. Jemand stöhnte, und dieses Stöhnen klang nicht nach Zahnschmerzen. Es holte sie zurück aus dem siebten Himmel auf den harten Tatsachenboden. Und die Realität sah wie folgt aus: Sie in der Firma ihres Mannes eng umschlungen knutschend mit dem Referendar in dessen Büro. Noch Fragen?
„Hörst du das?“
„Was?“
„Dieses Stöhnen!“
Er lauschte angestrengt, dann sagte er: „Ich höre nur diese grässliche Musik!“
Das