Lucas von der Forst reichte ihr die Hand: „Schade, ich hätte Sie gerne unter anderen Umständen kennengelernt.“
„Äh, mhm, also, äh, dann noch einen etwas angenehmeren Tag als gestern, äh, und heute. Herr van der … äh, von der …“ Jetzt kicherte sie schon wieder. Verflucht, war ihr das unangenehm.
Er lächelte sie freundlich an, drehte sich um und marschierte Richtung Tür. Dort winkte er ihr noch einmal zu. Sie winkte zurück. Sein letzter Satz hatte sie verwirrt. Sehr sogar. Was für ein peinliches Gestammel hatte sie bloß von sich gegeben?
Bevor Barbara in ihr Büro schlenderte, schaute sie bei Tina rein. Sie bot ihr sofort einen frischen Kaffee an und dann verbrachten beide den Vormittag mit Formalitäten, Einführung ins Team, ins Computersystem und in verschiedenste Interna.
„Nur mal unter uns Frauen, Barbara. Wenn der Markus mal ein bisschen komisch zu dir ist ... Der wollte eigentlich deinen Job und war total sauer, dass jemand »vom Land« und dann noch ne Schickse – O-Ton Markus – ihm den Job als Hauptkommissar weggeschnappt hat. Wenn du mich fragst, haben sie mit dir die richtige Wahl getroffen. Markus ist manchmal noch zu ungestüm. Er braucht noch ein paar Jahre. Du hast beste Referenzen, mehr Erfahrung. Ich meine, das PP MK ist ja auch fast so groß wie unseres hier. Und allein, dass du den Kindermörder aus Balve gefunden hast … Super Ding! Das hat dir hier viel Respekt eingebracht Barbara. Es war ja auch ein Dortmunder Kind unter den Opfern.“
„Danke Tina, ich weiß deine Offenheit zu schätzen. Den nächsten Kaffee, den bring ich dir! Ich weiß ja jetzt, wo die Küche ist.“
Gegen Mittag kam Markus zurück ins Büro. Barbara beschloss, weiterhin freundlich zu ihm zu sein. Es nützte nichts, Feinde im Büro zu haben. Sie nahm sich vor, ihn zu bestätigen. Ihm zu sagen, wie gut er war in dem, was er tat. Vorausgesetzt er war es auch.
„Markus, was hältst du davon, wenn wir zusammen in die Wohnung des Opfers gehen und mal schauen, was wir so finden? Und auf dem Weg dahin lad ich dich zum Essen ein, so quasi als Einstand.“
„Können wir machen. Gute Idee. Mir knurrt der Magen. Lass uns zum Laden von Kevin gehen. Du weißt ja, der Fußballer. Kennse doch? Oder kennt man den nicht auffem Land?“
„Meinste den Großkreutz? Ja klar kenne ich den. Schade, dass der jetzt in Darmstadt ist. Ich hab den ja immer gemocht. Auch wenn er kein Fettnäpfchen ausgelassen hat. Und Darmstadt steht jetzt auch noch kurz vor dem Abstieg in die Dritte.“
Barbara lachte innerlich über den verblüfften Gesichtsausdruck von Markus. Drei Brüder plus Vater, die den BVB liebten, prägen einen halt. Den Hinweis auf den Laden vom Kevin hatte sie auch schon von Brüderchen Daniel erhalten. Immerhin war das Dortmunder Präsidium nicht sehr weit davon entfernt. Richtige Fußballfans gingen vor dem Spiel dahin. Sie selbst war im Gegensatz zu ihren Brüdern noch nie im Stadion gewesen. Sie hielt es eher mit dem Tanzen. Hip-Hop, aber auch Salsa waren ihre Welt.
„Äh, ja, genau den meint’ ich. Echt? Darmstadt steigt ab? Hatte ich gar nicht so auffem Schirm. Also, der Laden ist sehr beliebt bei uns. Da gehen wir alle gerne hin, aber am liebsten ohne Uniform.“
„Muss ich das verstehen?“
„Naja, es verkehren auch gerne Ultras dort. Die haben es nicht so mit uns Bullen.“
„Ah, verstehe.“
Sie schlenderten über die Hohe Straße Richtung Restaurant. Ein Platz war schnell gefunden und als die Gerüche der Küche in ihre Nase drangen, merkte Barbara, dass ihr schon ordentlich der Magen knurrte.
Beide bestellten Schnitzel mit Pommes und danach fuhren sie in die Wohnung des Opfers. Doris Wurzbach hatte in der Nordstadt gewohnt. Von der Nordstadt hatte Barbara schon gehört und das war meist nichts Gutes.
„Höchste Kriminalitätsrate in Dortmund“, sagte Markus. „Wer bei uns Scheiße baut, wird strafversetzt in die Nordstadt.“ Er grinste. Dann wurde er ernster. „Hier werden wir sicherlich öfter mal hin müssen. Aber das ist ein anderes Thema.“
Nach ungefähr 15 Minuten hatten sie die Boldtstraße erreicht. Die Siedlung sah eigentlich sehr schön und ruhig aus. Gepflegte kleine Vorgärten, Häuser auf beiden Seiten, die im Karree gebaut waren. „Genossenschaft“, sagte Markus. „Die achten noch auf ihre Häuser.“
Als Barbara die Wohnungstür in der ersten Etage aufschloss, kamen ihnen gleich zwei miauende Katzen entgegen. Sie ärgerte sich, dass sie nicht gestern schon jemanden hingeschickt hatte. In der Küche suchte sie nach Dosenfutter und fand eine leere Doppelschüssel unterm Tisch, in die sicherlich das Wasser und Futter für die Katzen hineingehörte. Im Schrank entdeckte sie eine Dose mit Thunfisch und versorgte die beiden Tierchen, die sich hungrig auf das Fressen stürzten. Anschließend sah Barbara sich in der vollgestopften Wohnung um. Sie entdeckte eine Menge billigen und kitschigen Ramsch. Überall stand irgendwas herum. Kaum eine Fläche in den Schränken und Regalen, die frei war. Auf einem Sideboard entdeckte sie mehrere Zettel und Quittungen. Barbara las: Pfandverleih Göbel 30 €, Goldankauf. Pfandverleih Holthaus, 45 € Uhr. An- und Verkauf Müller: Bernsteinkette Silber 12 € ...
„Schau mal Markus. Ganz viele Quittungen von Pfandleihern und An- und Verkäufern. Irgendwie verdächtig. Dem müssen wir nachgehen. Vielleicht ist da ein Zusammenhang zwischen den gestohlenen Gegenständen im Altersheim und den Verkäufen.“
„Hier ist ein Laptop, den nehmen wir mal mit, Barbara. Und ich ruf den Tierschutzverein an, dass die sich um die Katzen kümmern.“
„Super Idee, Markus.“
Zum ersten Mal lächelte er sie an.
Kapitel 6
Hilde, 29. September
Draußen regnete es. Schade, da konnte man nicht zwischendurch auf den Balkon des Veranstaltungsraums. Hilde schaute nämlich gern von dort zum Eingangsbereich der Wohnanlage hinunter. Zum Springbrunnen mit den Bänken drum herum und den bunten Blumenrabatten. Sie saß zwar nur selten dort, spazierte lieber mit den Freundinnen durch den Teichpark zum Christgen hinüber oder in die Grünanlagen hinter dem Haus. Aber die Übersicht vom Balkon aus schätzte sie sehr. Sie half ihr bei der Orientierung, gab Hilde Sicherheit. Seit dem Verkauf ihres Eigenheims gehörte sie hierher. Zu dem Mehr-Generationen-Haus mit den netten Familien und den quirligen Kindern, zu Almut und Ruth, den Alten in der WG und zu all den reizenden Menschen in dieser lebensfrohen Architektur des Unverhofft.
Doch in der letzten Zeit vergaß sie dies manchmal. Wusste dann gar nicht mehr, wo sie war. Erkannte plötzlich Menschen und Dinge nicht wieder. Fühlte sich in eine andere Wohnetage versetzt oder gar an einen fremden Ort. Zum Glück nur für kurze Augenblicke, aber immer lange genug, um in Angst zu geraten. Nach dem Wiedererkennen ihrer Welt dann Riesenerleichterung. Doch gleichzeitig auch immer noch Angst. Angst vor dem nächsten Mal. Ob der Schrecken dann länger anhalten würde und ab wann er vielleicht für immer bliebe. Hilde war klar, dass dieser Zustand etwas mit ihrem Alter zu tun hatte. Aber was genau, das wollte sie lieber nicht wissen.
„Sie war eine gute Frau, die zwei erwachsene Kinder hinterlässt. Wir sind in Gedanken und mit den Herzen bei ihrer Familie. Doris Wurzbach hat ihr Leben in den Dienst der Altenpflege gestellt. Mit Humor und Tatkraft hat sie diese Aufgabe stets gemeistert.” Der Pastor war ein lieber Kerl, aber viel zu viel Blabla. Auch ein wenig weltfremd. Hilde hatte die Verstorbene nie leiden mögen. Hundsgemein war sie zu allen Schwächeren gewesen. Hatte sich lustig gemacht. Und dann diese Verleumdung des netten Herrn von der Forst. Reizender Junge. Diebstahlgerüchte über ihn zu streuen. Wirklich die Höhe! Aber gleich umbringen? Nein, das hatte natürlich niemand verdient. Auch dieses Aas nicht.
Neben dem Pastor stand eine Staffelei mit einem großen Foto von Doris Wurzbach. Unschuldig sah sie aus. Na ja, vielleicht entstand dieser Eindruck wegen des Trauerflors. Denn wer genau hinschaute, musste erkennen, dass ihr Lächeln voller Falschheit war. Die Sommerblumen in der Bodenvase gönnte Hilde der Verstorbenen trotzdem. Sie kamen ihr wie