Links neben Hilde saß Almut. Sie hatte die Gestaltung der Tischdeko für den Leichenschmaus organisiert. Gemischte Gestecke aus Rosen und Wiesenblumen. Passte gut zusammen. Dazwischen weiße Kerzen. Hilde freute sich schon auf ihr warmes Licht und überhaupt auf das Kaffeetrinken im Raum hinter der Schiebetür. Würde bestimmt gemütlich werden.
Almut trug genau wie Hilde ein schwarzes Kostüm mit weißer Bluse. Nur saß es bei ihr besser als bei Hilde. Musste man ihr neidlos lassen. War auch raffinierter geschnitten. Hilde hatte seit dem Ende ihrer Depression vor zwei Jahren am Bauch deutlich zugenommen. Dort spannte jetzt ihr Rock. Sie sollte ihre Morgengymnastik ausbauen und auch weniger Schokolade essen.
„Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.”
Ruth rechts neben Hilde scharrte mit den Füßen über den Boden. Lange stillsitzen konnte sie nie. Aber wenn sie etwas in die Hand bekam, war sie gleich ruhiger. Hilde steckte ihr das Gesangbuch zu. Ruths knochige Finger schnappten danach, drückten das Buch kurz an die Brust, legten es dann auf den Schoß, rieben über das eingestanzte Kreuz im Leinendeckel. Liebevoll betrachtete Ruth ihre Beute. Sie trug ihr Kleines Schwarzes. Das zog sie zu Geburtstagen und bunten Abenden ebenso gerne an wie zu Trauerfeiern.
Früher hatte Hilde einen ähnlichen Modeklassiker besessen. Trug ihn, wenn sie mit Kurt Konzerte besuchte oder ins Theater ging. Auch bei Michis Abifeier hatte sie das Kleid getragen. Zum Tanzen in jüngeren Jahren ging es natürlich mit weitem Petticoat. Walzer, Foxtrott, Boogie Woogie, Rock'n Roll im Jugendheim. Pfarrer Scholzen hatte die Mutter damals dazu gebracht, Hilde diese Freiheiten zu erlauben. Auf den Pfarrer hatte die Mutter gehört. Gott sei Dank.
„Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen ein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.”
Ruths Kleid war mit den Jahren zu weit geworden, schlabberte um die alten Knochen. Der silberne Gürtel hing abgeschabt und ausgeleiert um ihre Hüften. Aber Ruth wollte partout keinen neuen Gürtel haben. Wahrscheinlich hingen für sie zu viele schöne Erinnerungen daran. Und was die Leute über Ruths Outfit dachten, war im Grunde egal. Hauptsache Ruth selbst fühlte sich wohl damit.
„Siehst chic aus”, flüsterte Hilde ihr ins Ohr. Ruth lächelte und stieß Hilde neckisch in die Seite. Das war für Ruths Verhältnisse ein gewaltiger Gefühlsausbruch. So konnte man auch mit kleinen Dingen den Leuten eine Freude machen. Komplimente kosteten nichts.
„Lasst uns nun singen das Lied Nr. 529 So nimm denn meine Hände zur Ehre Gottes und zum Andenken an die Verstorbene.”
Das Singen tat gut, weitete die Lungen und befreite Hildes Gedanken von der leisen Wehmut, die sie seit den Erinnerungen an Kurt und dem schwarzen Etuikleid umgab. Ihr war, als habe sich unterhalb ihres Solarplexus ein Pfropfen gelöst. Nun flossen dort mit dem Gesang Gefühle und Stimmungen heraus. Ihr wurde es leichter ums Herz. In den Augen allerdings Tränen. Aber die durften dort auch sein auf einer Beerdigung. Kein Grund zur Scham. Es wusste ja niemand, dass Hildes Gefühle nicht der Wurzbach, sondern den alten Zeiten galten. Das Lied kannte Hilde auswendig. Dazu brauchte sie kein Gesangbuch. Zur Leichtigkeit ihrer Empfindung passte der freie Blick nach oben in die hohe Deckenkonstruktion aus schönen Hölzern.
„Ich mag allein nicht gehen, nicht einen Schritt. Wo du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit.”
Das Lied hatten sie auch für Kurt gesungen. Seine Feier war natürlich anders verlaufen als diese hier. Weniger alte, senile Leute, mehr junge Menschen. Im Grunde voll das pralle Leben. Kurt war schließlich im örtlichen Umweltschutz gewesen und gemeinsam mit Hilde im Sauerländischen Gebirgsverein. Statt dem Gedudel aus der hauseigenen Anlage hatte es richtige Live-Musik gegeben. Nicht nur Kirchenlieder, sondern auch Musicals und Pop Musik. Frank Sinatras I did it my way zum Beispiel. Da kannten die Freunde aus Kurts Posaunenchor nichts.
Den feschen Jungen vom CVJM hatte Hilde schon früh kennengelernt. Noch vor ihrer Konfirmation setzte Pfarrer Scholzen sie als Helferin im Kindergottesdienst ein. Ja, so hatte es angefangen mit ihr und Kurt. Denn auch er engagierte sich in der Jugendarbeit in Unna.
„So lasset uns denn miteinander für die Verstorbene beten.”
Ruth hielt noch immer zufrieden das Gesangbuch fest.
„Gleich gibt es Schnittchen und Kuchen”, erklärte ihr Hilde.
„Ruhe!”, mahnte Almut von links.
Heute sah man Almut die Strapazen der Chemo an. Da half auch die Pagenkopfperücke nichts. In den letzten Wochen war sie schmaler geworden. Und eine Hautallergie hatte diese Behandlung auch ausgelöst. Juckende Stellen an Händen und Armen. Anfangs war Hilde sauer auf ihre Freundin gewesen. Hatte geglaubt, Almut gehe heimlich in die Stadt shoppen. Allein, ohne sie mitzunehmen. Bis sie ihr dann von dem Lymphknotenkrebs am Hals erzählte und von der Chemotherapie. Ja, so war sie die Almut, bei Krankheiten verschwiegen bis zum Gehtnichtmehr.
„Soll ich mit ärztlichen Hypothesen hausieren gehen? So eine Tratschtante bin ich nicht.”
Angeblich hatte man bei dieser Krebsart gute Heilungschancen. Auch ohne Operation. Mental war Almut immer noch gut drauf. Ließ sich von keinem was vormachen. Half ja auch den Kindern aus dem Familientrakt bei den Schulaufgaben. Hilde unterstützte sie in Mathe. Als ehemalige Bankkauffrau konnte sie gut mit Zahlen umgehen. Auch mit Geschichtsdaten. Aber Almut erklärte ihr ständig, wie man das für die Kinder anschaulicher machte. Nun ja, einmal Lehrerin, immer Lehrerin.
„Amen.”
Nach dem Segen wies der Pastor die Trauergemeinde darauf hin, dass die Beisetzung der Urne zu einem späteren Zeitpunkt im engsten Familienkreis stattfinden werde. Dann sprach er den Wurzbachtöchtern und deren männlichen Anhang noch einmal sein Beileid aus. Händeschütteln am Kopf einer Warteschlange. Auch die anderen Trauergäste wollten der Familie kondolieren. Dazu hatte Hilde keine Lust. Man musste die Sache ja nicht übertreiben. Viel sinnvoller war es, jetzt schnell einen Platz an der Tafel zu sichern. Am besten noch, bevor die Schiebetür zum Speiseraum offiziell geöffnet wurde.
Almut rückte ihren Stuhl. „Will nur schnell zur Toilette, bevor der große Ansturm kommt.”
„Sehr vernünftig. Wir gehen schon mal zu Tisch.”
Drei Damen aus dem Café Christgen stellten gerade Platten mit Kuchen und belegten Brötchen zwischen Almuts Blumendeko, als Hilde mit Ruth durch eine Nebentür in den Feierraum trat .
„Da können wir ja nicht verhungern”, sagte sie. Andrea Caspari, die Konditorin des Cafés, lachte. „Das wollen wir doch nicht hoffen, Frau Körner. Streuselkuchen und Bienenstich kommen frisch aus dem Ofen.” Mit kritischem Blick kontrollierte sie noch einmal Platten und Gedecke. Dann klatschte sie in die Hände. „So, Mädels, alles bereit für die Gäste. Ihr könnt die Tür zum Andachtsraum öffnen.”
Von ihrem Platz aus entdeckte Hilde im Gewusel der Trauergäste eine junge Frau mit dunklen Locken. Wo kam die denn mit einmal her? Stand direkt neben Frau Sommerfeld. Einen wunderschönen Schal trug sie um den Hals. Edle Seidenkreation in Grüntönen. Ob das die Kommissarin war, von der alle sprachen? Sie lächelte so nett, schaute jetzt gemeinsam mit Frau Sommerfeld herüber. Oh, winkte auch noch. Hilde winkte zurück. Bestimmt wollte sie gleich mit ihr über den peinlichen Blackout im Teichpark sprechen. War ja ihre Pflicht als Kommissarin. Hilde wollte auch kooperieren. Aber dass dies jetzt sein musste, wo es gerade so gemütlich wurde, passte ihr eigentlich gar nicht.
Ruth wippte in freudiger Erwartung auf ihrem Stuhl, hielt aber noch immer das Gesangbuch in den Händen.
„Komm, das legen wir einfach neben die Blumen. Schließlich sind wir zum Futtern hier.”
Ruth kicherte. Aus dem Andachtsraum näherte sich Frau Sommerfeld.
„Freut mich, dass es Ihnen beiden schon schmeckt. Aber könnte die Kommissarin gleich mal mit Ihnen sprechen, Frau Körner? Sie wissen ja, dass Frau Allenstein Sie neulich nicht wecken wollte.”
Hilde trennte mit ihrer Kuchengabel