„Okay, meinen Sie, sie hat vielleicht was beobachtet?“
„Ich glaube eher nicht. Sie können ja mal versuchen, sie zu fragen. Ganz oft ist sie auch völlig klar und normal. Nur manchmal … Aber ich hab das Gefühl gehabt, dass sie die Leiche nicht einmal richtig registriert hat.“
„Na, gut. Vielen Dank. Haben Sie sonst noch irgendwas gesehen? Irgendetwas oder irgendjemanden beobachtet?”
„Nein, nichts, Frau Kommissarin. Da war niemand außer Frau Körner. Niemand, der weggelaufen oder mir entgegengekommen wäre oder so, falls Sie an so etwas denken?“
„Okay, dann geben Sie mir jetzt bitte Ihre Telefonnummer für den Fall, dass ich noch weitere Fragen habe.“
Er reichte ihr seine Visitenkarte. Barbara steckte sie in die Manteltasche.
„Und hier ist meine Karte. Melden Sie sich, sobald Ihnen noch was einfällt. Könnten Sie so freundlich sein und mir zeigen, wie ich zur Heimleitung komme? Sie kennen sich doch sicherlich hier aus.“
„Aber gerne doch, ich bring Sie hin, bevor Sie sich in den Gängen verlaufen. Die Leiterin heißt Sommerfeld. Sie weiß schon Bescheid, weil ich ihr vorhin Frau Körner überreicht habe.“ Lucas von der Forst öffnete Barbara die Tür.
Ein wirklich nettes Lächeln, dachte sie.
Er begleitete sie am Park vorbei durch den Eingangsbereich, mehrere Gänge entlang und dann klopfte er an eine Tür: „Frau Sommerfeld, hier ist eine Kommissarin für Sie.“
„Soll sofort reinkommen. Ich bin noch so geschockt.“
„Ich würde dann jetzt gehen, oder brauchen Sie mich noch?“
„Sie können gerne nach Hause gehen, Herr von der Forst, es sei denn, Sie wollen heute noch die Fenster putzen.“
„Nee, nee, das machen wir nächste Woche. Das hab ich vorhin schon abgeklärt mit Frau Sommerfeld.“
Barbara betrat das Büro der Heimleitung. Frau Sommerfeld kam mit hängenden Schultern auf sie zu. Sie war etwas rundlich und wirkte, als ob sie ein Stückchen Kuchen zu schätzen wusste. Eine gepflegte Erscheinung, dachte Barbara. Man sah der Heimleiterin an, dass sie sehr auf ihr Äußeres achtete.
„Setzten Sie sich Frau …“, sie bot Barbara einen Stuhl gegenüber ihrem mit Papieren überhäuften Schreibtisch an.
„Allenstein, ermittelnde Kommissarin, Kripo Dortmund.“
„Frau Allenstein, ich kann das gar nicht fassen. Wer ermordet denn eine Altenpflegerin?“ Frau Sommerfeld ließ sich hinter ihrem Schreibtisch in den Sessel fallen und hielt ihre Hände vors Gesicht. „Die Doris war jetzt nicht das, was man einen Sonnenschein nennen konnte, aber einen Grund sie zu ermorden … Nein. Den gab es nicht. Ich begreife das nicht. Sie hatte doch auch nix bei sich … Keine Handtasche oder so … Ich verstehe das nicht … oh mein Gott!“
„Frau Sommerfeld, jetzt beruhigen Sie sich, wir fangen ja gerade erst an mit den Ermittlungen. Sie sagen, Frau Wurzbach war kein Sonnenschein. Was meinen Sie damit?“
„Naja, man soll ja nicht schlecht über Tote reden.“
„Aber?“
„Nun, es gibt freundlichere Mitmenschen unter uns. Manchmal war sie ganz schön zickig. Ach, wie soll ich sagen, den älteren Menschen gegenüber, und auch ihren Kolleginnen und mir gegenüber fehlte es öfter mal an Respekt. Aber Sie kennen ja den Arbeitskräftemangel im Pflegebereich. Da ist man über jede Kraft, die man kriegen kann, heilfroh. Und ihre Arbeitszeugnisse waren einwandfrei, wirklich.“
„Hatte sie denn Feinde? Oder Streit mit jemandem.“
„Streit, mhmmm, ja jetzt, wo Sie es sagen ... Erst kürzlich hat es einen furchtbaren Streit mit unserem Fensterputzer gegeben. Der Herr, der sie hierhin begleitet hat. Eigentlich ein ganz Netter, der Herr von der Forst, und total zuverlässig. Aber die Doris hat gemeint, es kommt immer was weg, wenn er da ist. Wissen Sie, hier sind in letzter Zeit Wertgegenstände der älteren Bewohner verschwunden. Es gehen aber so viele Leute hier ein und aus, das könnten auch andere gewesen sein. Doris hat trotzdem rumerzählt, es passiert immer, wenn er Fenster putzt. Herr von der Forst war ganz außer sich, als er von den Beschuldigungen gehört hat. Verständlich. Wenn er in Verruf gerät, ist das für seine Firma schädigend.“
„Ah, interessant und sonst? War sie verheiratet, hatte sie Kinder?“
„Soviel ich weiß, war sie geschieden und hat zwei Mädchen. Schon erwachsen. Zu denen hatte sie ein gutes Verhältnis, sagte sie immer. Ich weiß nicht viel von dem Privatleben meiner Mitarbeiterinnen. Ehrlich gesagt geht mich das auch nichts an.“
„Frau Sommerfeld, da gab es noch eine Zeugin. Eine ältere Dame. Frau … mir fällt der Name gerade nicht ein.“
„Frau Körner meinen Sie? Die ist vorhin sofort eingeschlafen. Vielleicht versuchen Sie es lieber morgen? Aber ob sie Ihnen helfen kann? Manchmal ist sie schon sehr vergesslich.“
„Gut, Frau Sommerfeld. Dann danke ich Ihnen. Wo hatte die Verstorbene denn ihre persönlichen Gegenstände?“
„Alle Mitarbeiterinnen haben abschließbare Spinde.“
„Kann ich den von Frau Wurzbach einsehen? Es wird nötig sein, dass wir Zugang zu ihrer Wohnung bekommen. Dazu brauche ich ihre Schlüssel.“ „Aber natürlich, sofort, kommen Sie.“
Barbara wartete, bis Frau Sommerfeld den Spind geöffnet hatte. Sie entnahm ihm eine Handtasche, ein billiges Plastikmodell, das geschmacklich zur Kleidung der Gefundenen passte, und kramte darin herum. Sie fand ein Handy, eine Geldbörse und einen Schlüsselbund. „Das reicht für heute. Den Schrankinhalt schauen wir uns später genauer an. Bitte überlassen Sie mir die Spindschlüssel, damit die Spurensicherung hier nochmal nachschauen kann. Vielen Dank, Frau Sommerfeld.“
Barbara verließ das Gebäude und sah, dass bereits weitere Kollegen eingetroffen waren. Der Wagen der Spurensicherung stand am Wegesrand. Auch einige Neugierige hatten sich eingefunden. Sie stellte sich kurz der Spusi vor und bat ihren Kollegen, sie ins Präsidium zu bringen. „Herr Beilage …“
„Sagen Sie ruhig Markus. Wir sind hier nicht so förmlich.“
„Okay Markus, sind Sie, äh bist du so nett und bestellst den Fensterputzer morgen um 9 Uhr ins Präsidium. Hier ist seine Visitenkarte. Und ich heiße übrigens Barbara.“
„Wird erledigt, Chefin.“ Hatte sie da einen Unterton gehört oder sah sie Gespenster?
Im Präsidium angelangt inspizierte sie kurz ihren neuen Schreibtisch und legte den Schlüsselbund der Ermordeten in die oberste Schublade. Markus überreichte sie den Schlüssel für den Spind. „Gibst du ihn der Spusi. Sie sollen mal schauen, was sie da noch so finden und gibt es vielleicht einen Wagen, den ich nutzen kann, Markus?“
„Leider nein, aber unten ist ne Streife, die fährt dich.“
Dann verließ er wortlos das Zimmer. Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, verfestigte sich. Besonders freundlich war das nicht. Es klang schon so ein bisschen wie: Sieh zu, dass du klarkommst.
Als Barbara in ihrer Wohnung ankam, schlüpfte sie gleich unter die Dusche und legte sich auf ihre Matratze. Die Klamotten weiter auspacken, konnte sie auch morgen machen, dachte sie.
Kapitel 3
Hilde, 26. September
Schon halb sechs! Hilde schlug ihre Decke zurück und setzte sich auf die Bettkante. So lange schlief sie sonst nie nach dem Essen. Hatte es heute etwas Besonderes gegeben, dass sie sich so zerschlagen fühlte? Eine WG Besprechung, eine Aktion im Küchengarten oder einen Arztbesuch? Sie konnte sich nicht erinnern.
Nach dem Gang zur Toilette