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Kommissar Peter Ferenc saß hinter seinem Schreibtisch und lachte. Einer seiner Kollegen hatte ihm soeben eine Email zukommen lassen, in der geschildert wurde, welche Probleme Noah mit seiner Arche in der heutigen Zeit haben würde. Welche Bauvorschriften er hätte einhalten müssen und mit welchen Ämtern er hätte kämpfen müssen. Am Ende bat er Gott verzweifelt, eine weitere Sintflut noch einmal zu überdenken, da es einfach unmöglich wäre, in der heutigen Zeit alle Bestimmungen zu erfüllen, um eine Arche bauen zu dürfen. Ferenc mochte diese Art von Humor. Aus eigener Erfahrung wusste er natürlich, wie schwierig es manchmal sein konnte, wenn man etwas bei einem Amt beantragen wollte oder auch einfach nur eine Auskunft haben wollte. Natürlich waren nicht alle Ämter so, das war auch ihm klar. Doch die entscheidenden Dinge liefen in solchen Angelegenheiten nie glatt, ganz im Gegenteil. Je entscheidender das Anliegen, umso schwieriger wurde es einem gemacht. Das war zumindest sein Eindruck. Daher fand er diese Geschichte nur allzu passend und schickte sie gleich an drei weitere Kollegen. Nachdem die Nachricht seinen Postausgang verlassen hatte, lehnte er sich zurück, und ihm fiel auf, dass er in den letzten Wochen wieder öfter gelacht hatte. Zumindest öfter als in den letzten Jahren. Es schien aufwärts zu gehen. Es stimmte also doch, was man sagte. Dass die Zeit alle Wunden heilen würde. Aber es lag bestimmt nicht nur an der verstrichenen Zeit, dass es ihm allmählich wieder besser ging. Den größten Anteil daran dürften wohl seine Kollegen haben und die Arbeit machte ihm auch endlich wieder Spaß. Nach Jahren der Trauer und Unklarheiten, hatte er endlich wieder das Gefühl, in die richtige Richtung zu gehen. Wie sagte man so schön? Er war wieder in der Spur. Doch sein Lächeln verschwand, als er darüber nachdachte, was ihn eigentlich aus der erwähnten Spur geworfen hatte. Der Verlust seiner geliebten Frau. Der Schock, dass sie nicht die war, die sie vorgegeben hatte zu sein. Ihr früheres Leben, das sie vor ihm geheim gehalten hatte. Und natürlich die schrecklichen Taten, die sie begangen hatte. Trotzdem. Er hatte sie aus tiefstem Herzen geliebt, und er vermisste seine Sandra. Er würde sie nie wieder sehen können, und dieser Gedanke machte ihm zu schaffen. Nicht mehr so sehr wie in den letzten Jahren, aber immer noch genug, um von Zeit zu Zeit etwas Wehmut zu spüren. Schließlich hatte er ja auch eine wunderbare Zeit mit Sandra erlebt. Und auch wenn sie zu diesen grausamen und schrecklichen Taten fähig gewesen war, seine Liebe zu ihr war nie vollends erloschen. Lange hatte es gedauert, bis er sich wieder aus dem Haus gewagt hatte. Diese ganze Geschichte hatte ihn einfach erschlagen, er wollte nichts mehr mit der restlichen Welt zu tun haben. Er hatte Anrufe und Besuche ignoriert, war nur gelegentlich über die Straße zu dem Lebensmittelladen gegangen, um das Nötigste einzukaufen, und war ansonsten meist in dunklen Räumen in völliger Stille gesessen. Oft hatte er auch daran Gedacht, dieser Qual ein Ende zu bereiten, doch das hielt er für einen feigen Ausweg. Er wollte nicht davon laufen, das hatte er noch nie getan. Es musste doch irgendwie weitergehen. Aber wie? Wie sollte das gehen, nachdem seine ganze Welt um ihn herum zusammengefallen war? Viele seiner Freunde und damaligen Kollegen hatten versucht, ihn zu erreichen oder ihn zu besuchen. Doch er hatte alles abgeblockt. Er konnte und wollte nichts mit anderen Menschen zu tun haben. Schiemek, sein alter Freund und Kollege, hatte jedoch nicht locker gelassen und ihn immer wieder angerufen. Selbst nach Monaten, als die meisten anderen ihre Aufmunterungs- und Kontaktversuche bereits aufgegeben hatten, hatte er von Schiemek immer noch Nachrichten erhalten. Schließlich entschloss sich Ferenc dann doch, ihn zu sich einzuladen. Er konnte sich noch gut an die Mischung aus Freude und Entsetzen in Schiemeks Gesichtsausdruck erinnern, als er ihm die Haustür geöffnet hatte. Zum einen freute sich Schiemek natürlich, dass er endlich zu seinem alten Kollegen durchgedrungen war, zum anderem war er jedoch schockiert, was aus ihm in diesen wenigen Monaten geworden war. Unrasiert und abgemagert, mit dicken Rändern unter den Augen, war er vor ihm in der Tür gestanden. Es musste ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Nachdem sie dann zusammen das Haus betreten hatten, hatte Schiemek erst einmal die Rollläden hochgezogen und überall gelüftet. Ferenc war nur mit in die einzelnen Räume gegangen und hatte Schiemek dabei zugesehen, wie er sich durch das mittlerweile entstandene Chaos gekämpft hatte und immer wieder nur den Kopf geschüttelt hatte. Danach hatten sie sich in der Küche an den Tisch gesetzt und lange miteinander geredet. Eigentlich hatte fast nur Schiemek gesprochen und Ferenc hatte immer wieder versucht, ihm zuzuhören, doch es war im so unglaublich schwer gefallen, sich an einem Gespräch aufmerksam zu beteiligen. Am Ende hatte er dann aber doch dem Angebot zugestimmt, dass Schiemek und seine Lebensgefährtin bei Ferenc vorbeikommen würden, um ihn und sein Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Wenige Tage später waren die beiden dann auch tatsächlich gekommen und hatten zwei Tage lang sein Haus aufgeräumt, Wäsche gewaschen und verfaulte Lebensmittel weggeworfen. Ferenc konnte sich gut erinnern, wie erstaunt er doch gewesen war, dass ihm in solch einer Art und Weise geholfen wurde. Mit Hilfe der beiden fand er wieder zurück in sein Leben. Ja, er fand, man konnte ruhig sagen, durch Schiemek und seine Lebensgefährtin hatte er seinen Lebenswillen zurück gewonnen. Er fing an, sich wieder zu rasieren und nahm auch an den Therapiesitzungen teil, die ihm sein Chef empfohlen hatte. Er ließ sich noch ein weiteres Jahr beurlauben und begann, die Welt zu bereisen. Er verbrachte viel Zeit in Neuseeland und Australien, Zeit, die ihm gut tat, und in der er sich endgültig von dem drückenden Schmerz in seiner Seele befreien konnte. Natürlich tat es immer noch weh, wenn er an seine geliebte Sandra zurück dachte, doch damit würde er leben müssen und wenigstens war die Sache nun halbwegs erträglich. Vielleicht würde er eines Tages den Moment erleben, wo er nicht mehr an sie dachte. Doch ob dieser Tag kommen würde, war mehr als ungewiss. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah zum Fenster hinaus. Hier im dritten Stock hätte er eine wunderbare Aussicht genießen können, wäre sein Büro auf der anderen Seite des Gebäudes gewesen. Von hier aus konnte er jedoch nur den Parkplatz im Innenhof und die gegenüberliegende Hauswand betrachten. Doch das machte nichts. Seit er letztes Jahr auf diese Dienststelle gekommen war, war für ihn alles sehr gut gelaufen. Er hatte großartige Kollegen und konnte auch hier in der Mordkommission arbeiten. Um die Versetzung hatte er selbst gebeten, da er einfach einen endgültigen Schlussstrich ziehen wollte. Ihm wurde auch angeboten, eine, nun ja, ruhigere Tätigkeit zu bekleiden, doch davon hielt er nichts. Er war nie der Typ gewesen, der nur hinter seinem Schreibtisch saß, und dabei zu sah, wie sein Bauch größer wurde. Peter Ferenc musste raus, musste die Welt zumindest ein bisschen verbessern und die Menschheit vor grausamen Verbrechern schützen. Ein Schmunzeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.