Der Große Herr und die Himmlische Frau. Maggi Lidchi-Grassi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maggi Lidchi-Grassi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256826
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hier raufzukriegen. Dann tragen wir ihn nach oben.”

      Ächzend, schiebend und stoßend stolperten sie die Treppe hinauf. Der Soldat schnarchte die ganze Zeit. “Wie hat er es nur geschafft, hier herunterzukommen?” Die Stimme des Bahrenträgers klang fragend und erschöpft. “War Taxifahrer. Genau das gleiche. Immer die Leute aus den verrücktesten dummen Lagen herausholen.”

      Sie trugen die Bahre auf die Straße.

      “Kommt jemand, dir zu helfen?”

      “Ich hab’ dir doch gesagt, Kumpel, ich bin allein. Konnten nicht mehr als einen von uns entbehren.”

      “Was wirst du machen? Mein Sarge hat mir gesagt, ich soll diesen Keller nicht verlassen.”

      “Hilf mir nur, ihn auf die andere Seite zu tragen.” Sie überquerten die Straße.

      “Du kannst nicht weiter mitkommen?”

      “Besser nicht.”

      “O.K. Laß ihn fallen.” John setzte sein Ende vorsichtig ab, und der Träger begann, die Bahre wie einen Kartoffelsack hinter sich herzuschleifen.

      “Hey, warte mal! Das wird ihn umbringen.”

      “Was soll ich tun? Ihn hierlassen? Ich glaube, er ist ohnehin erledigt. Aber ich nehme ihn mit.” Sie konnten ihn nicht wie einen großen gestrandeten Wal liegenlassen. Er war bewußtlos. Es hatte keinen Sinn, hinter seinem Rücken einen Kraut in den Keller schlüpfen zu lassen. Es könnte ein, zwei oder drei Leben mehr bedeuten. Er ging noch ein paar Schritte neben der Bahre her.

      “Ich fühle mich schrecklich”, sagte er.

      “Wie lange bist du schon im Einsatz, Soldat?”

      “Wie lange? ... Nun, ich glaube, erst einen Tag.”

      “Bist ein gutes Kind. Weißt du, du erinnerst mich an Van Johnson, den Jungen nebenan. Aber er gehört nicht in den Krieg. Er sollte am Eßtisch seines Vaters sitzen, aber da wird er nie wieder hinpassen. Schau, mein Kind, es gibt keinen Weg, sich in diesem Krieg wohlzufühlen. Also gehe in deinen Keller zurück oder helfe mir mit diesem Kerl. Entscheide dich.” John sah zu, wie die Bahre fortgeschleift wurde. Dann winkte er und ging in den Keller zurück.

      Er mußte die Batterien für die Nacht sparen, und es gab mit Sicherheit keinen Weg, sich in dem dunklen Keller wohlzufühlen. Ratten kratzten am Erbrochenen und liefen über seinen Regenmantel. Kathy. Er dachte an Kathy und an die Nacht, als er sie im Park getroffen hatte. Es war die erste Nacht gewesen, die er nach seiner ersten Schiffahrt in der Kanalzone wieder in New York verbracht hatte. An einem warmen Sommerabend im Park hatte er gerade einem Freund seine Erlebnisse erzählt, als dieser ein vorbeikommendes Mädchen anhielt und sie einander vorstellte. “Das ist John, Seefahrer und Dichter. Kathy wird deine Geschichte lieben.” Der Freund stand auf und verschwand.

      Sie waren allein.

      “Hallo. Ich heiße Kathy.” Sie war ein scheues Mädchen in einem weißen Kleid mit schulterlangem Haar, das ein wenig nach vorn fiel wie ein Vorhang, hinter dem sie sich versteckte. Plötzlich kam sie hervor. “Der Kerl ist verrückt.” John wußte nicht, was er antworten sollte.

      “Ich kenne ihn nicht sehr gut.”

      “Er schien dich zu kennen.”

      “Nun ja, na gut, ich habe ihn mein ganzes Leben gekannt. Aber du weißt, wie das ist.” Das klang sicher dumm genug.

      “Ich vermute, so geht es einem mit den meisten Menschen, die man sein ganzes Leben lang kennt. Selbst die Eltern”, sagte sie.

      “Besonders die Eltern.” Sie hatte ihm die Unsicherheit genommen und die dumme Sache, die er gesagt hatte, zurechtgerückt.

      “Ja, aber reden wir nicht über Eltern. Reden wir über dich.”

      “Mich? Ich bin gerade aus Panama zurückgekommen. Ich bin beim Armeetransport.”

      “Magst du es?”

      “Ich mag es von allen Dingen am meisten. Ich bin fürs Wasser geschaffen. Ich wünschte, ich wäre ein Delphin. Ich fürchte nur, sie werden mich ins Heer einziehen. Ich wäre gerne bei der Marine, aber nicht beim Heer.”

      “Warum?”

      “Auf See gibt es immer Zeiten, wo man aufs Wasser schauen kann. Es gibt zwei Dinge, die mich wirklich mich wohl fühlen lassen: Schnee und das Meer. Mit ihnen kann mein Geist Millionen Meilen weit wandern. Nichts kann ihn daran hindern. Es ist, als ob man innerlich Musik hört. Und dann gibt es immer Zeit, zu lesen und nachzudenken. Man ist nicht ständig in Eile. Aber am meisten liebe ich es, wenn mein Geist leer ist.”

      “Wie kann dein Geist leer sein?”

      “Nun, er ist es nicht wirklich, aber etwas anderes und Besseres ist da.”

      “Was ist es? Na, mach dir keine Sorgen. Man sollte nicht gezwungen sein, es zu sagen. Ich vermute, du bist Dichter. Was liest du denn gerne?” Sie hatte nicht gelacht.

      “Keats, Shelley, manchmal alles, was ich kriegen kann. Geschichte. Biographien. Meine Mutter sagt, ich wolle die ganze Bibliothek lesen. Ich mag besonders gern Gedichte, schreibe aber selber kaum welche.”

      “Ich glaube, ich hätte Angst, ständig auf See zu sein. Hast du keine Angst?”

      “Einmal sind wir in einen Sturm geraten.” Er hatte sich selber kaum eingestanden, wieviel Furcht er gehabt hatte – und kein Land in Sicht.

      “Hattest du keine Angst?”

      “Ich glaube, ich hatte solche Angst, daß ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wieviel Angst ich hatte. Ich war von Furcht überwältigt. Jetzt erzähle mir von dir.”

      “Ich gehe noch immer zur Schule. Wenn ich sie nächstes Jahr abgeschlossen habe, möchte ich eine Ausbilding als Krankenschwester anfangen.”

      “Ich glaube, ich würde das noch viel furchterregender finden, wenn Menschen sterben und all solche Sachen.”

      “Nun, manche überleben”, sagte sie mit einer leichten Grimasse. “Das ist der Zweck der Angelegenheit.” Sie sagte es auf eine so einleuchtende und positive Art, so als würden jene, denen sie zu leben half, das ganze Sterben und Leiden rechtfertigen. Er spürte die Schönheit des Parks und der sanft erhellten Bäume, die dunkle Schatten auf das Gras warfen. In den Menschen, die in der warmen Abendluft umherwanderten, schimmerten unverhoffte Tugenden.

      “Vermutlich”, sagte er. “Natürlich. Wenn du mich pflegen würdest, würde ich leben wollen.”

      “So weit bräuchte es sicher nicht zu kommen”, sagte sie und rückte etwas von ihm ab. Er sah sich, wie er verwundet in den Hafen einlief, und wie dieses Mädchen herantrat, seine Temperatur maß und ihm den Kopfverband wechselte. Sie trug eine kleine gestärkte Mütze, und als sie sich vorneigte, fielen ihre Haare auf die Bandage.

      “Woran denkst du?”

      Nach einem kurzen erschrockenen Zögern sagte er rasch: “An fliegende Fische.” Und tatsächlich gab es eine Szene, die ihm immer wieder einfiel: silberne Fische, die aus dem Wasser sprangen. Es war das erste Mal gewesen, daß er sie gesehen hatte, und er erzählte ihr von dem Morgen, als die Maschine im Kanal ausgefallen war, und wie er verzaubert dagesessen und sie beobachtet hatte, wie sie ihm wie silberne Pappelblätter erschienen waren, die jemand losgeschüttelt hatte, oder wie Münzen, die durch die Luft hüpften. Schließlich erzählte er ihr von dem sterbenden Fischadler. Nichts in seinem ganzen Leben hatte ihn je so berührt, und er mußte diesem Mädchen davon berichten.

      “Sei nicht traurig”, sagte sie. “Der Vogel wollte nicht in den Himmel kommen. Er versuchte nur, so weit wie möglich von den Kugeln und dem Mann wegzukommen. Was könnte ein Fischadler im Himmel wollen?” Sie hatte eine warme und beruhigende Art. Ob sie recht hatte oder nicht, sie bewirkte, daß er sich wohl fühlte. Was für eine wunderbare Krankenschwester sie sein würde! Er wollte sie zur Freundin haben.

      “Können wir uns noch einmal sehen, ich