Der Große Herr und die Himmlische Frau. Maggi Lidchi-Grassi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Maggi Lidchi-Grassi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844256826
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die Explosionen vom anderen Ende der Stadt her einen trüben Glanz verbreiteten. John stand an der Kellertür, unwillig, die dunkle Treppe hinabzusteigen. Wäre Impi hiergewesen, hätte man sie vielleicht zusammen gesandt, wie diesen Morgen. Zum ersten Mal, seit er Impi gesehen hatte, fühlte er sich einsam. Von unten kam ein menschliches Geräusch. Er griff nach einer Handgranate, schob die Tür leicht auf und horchte ... Ein leises Stöhnen. Er rief “Hände hoch!” und gab der Tür einen Tritt. Sie traf die Wand und schlug gegen das Gewehr zurück.

      “Monsieur!” piepste eine kindliche Stimme. “C’est un soldat américain.”[8] Die Stimme hallte die Treppe herauf. Er fand sie mit der Taschenlampe.

      “Komm hier herauf!” rief er und ließ die Taschenlampe die Stufen klettern. Man würde ihm keine Falle stellen. Ein kleiner engelhafter Junge mit goldenem Haar schaute ihn mit blauen Augen an, die die Dummheit der Menschen gesehen hatten. Er hielt ein weißes Tuch empor, das dunkle Flecken hatte.

      “Il est blessé, Monsieur, gravement blessé.”[9] John zögerte. Das Kind konnte gut als Lockvogel für eine Falle dienen.

      “Hol mich hier raus”, bettelte eine verzweifelte amerikanische Stimme. Darauf folgte ein Geräusch, als ob sich jemand übergab. Er leuchtete zum unteren Ende der Treppe, sah nichts und folgte dem Kind mit der Pistole in der Hand. Würde er jemals wieder wissen, wem er trauen konnte? Er fragte sich, ob er diese Treppe wieder heraufkommen würde.

      Auf dem kalten feuchten Boden lag ein riesiger Soldat. Sein Mantel war offen und ließ einen blutdurchtränkten Pullover sehen. Ein Bauchschuß. Er mußte hier heruntergefallen oder -gekrochen sein, und nun lag er stöhnend in einer Blutlache. Er blickte John mit glasigen Augen an und wandte den Kopf nach links und rechts wie ein Uhrwerk. “Hol ... mich ... hier ... raus!” Der Junge wischte ihm Erbrochenes vom Kinn und Kragen ab. John bezwang sein Entsetzen.

      “Wir holen dich hier raus”, krächzte seine Stimme. Er hockte sich nieder, und die Enden seines Mantels schleiften durch das Blut. “Du wirst im Nu hier raus sein, Kumpel. Halt durch.”

      “Danke, Kumpel.” Der Verwundete ließ ein furchtbares gedehntes Stöhnen hören und sagte noch einmal: “Daaanke.”

      “Ich hole eine Bahre.” Diese Worte ließen den Verwundeten verzweifelt den Kopf hin- und herwerfen. “Geh nicht ... weg”, jammerte er. “Laß mich ... nicht allein ... Mein Magen brennt. Gib mir Wasser.”

      “Schau, Kumpel, du brauchst eine Bahre. Wenn ich dich zu tragen versuche, werde ich dich vielleicht noch mehr verletzen. Auf einer Bahre wirst du es gemütlich haben.” Er hielt die Feldflasche hin und hob den Kopf des Soldaten an. Nach einem kleinen Schluck sank der Kopf zurück und rollte wieder nach links und rechts. Er wischte ihm den Mund ab und rannte klappernd die Treppe hinauf. Die eisernen Echos, die die Stiefel aussandten, konnten nicht das Stöhnen und das Geräusch des Erbrechens übertönen, die in seinem Kopf hallten. “Oh mein Gott, mein Gott”, betete er. Das war mehr, als Worte sagen konnten. Jetzt verstand er. Impi hatte Glück gehabt. Er war froh für ihn. Wieder und wieder rannte er. Er hörte, wie eine Handgranate explodierte. Er war wieder im Hauptgebäude, die Treppe hinauf, und rannte unter dem hochnäsigen Seitenblick den Flur entlang in ein Zimmer voller Bücherregale ... leer ..., und in das nächste, wo Drummond, von Metter und zwei anderen Unteroffizieren umgeben, auf eine Karte zeigte. Er platzte mit seinem Bericht heraus.

      “Beruhige dich, Kelly. Ich werde eine Bahre senden, sobald eine frei ist. Und jetzt geh um Gottes willen wieder da runter. Wer bewacht den Ort? Wer ist jetzt da?”

      “Niemand. Der Junge.”

      “Warum bist du nicht dageblieben und hast den Jungen geschickt?” John blickte betroffen. “Na gut, jetzt geh wieder zurück. Gib ihm etwas Morphium aus seiner Tasche. Weißt du, wie man Morphium gibt? Sie haben es dich gelehrt.”

      “Ich weiß nicht. Ja ... Ich bin mir nicht sicher”, stotterte er.

      “Doch, du erinnerst dich. Du steckst einfach die Nadel rein.” Drummond stach mit seinem metallenen Bleistift in die Luft, drehte die Handfläche leicht nach oben und preßte mit dem Daumen auf den Bleistiftgummi. “Dann schiebst du den Drücker hinunter. Und jetzt geh.”

      Es war dunkler geworden. Auf was für ein unsinniges Spiel hatten sie sich alle eingelassen! Wie konnte sich irgendein vernünftiger Mensch der Gefahr aussetzen, zu enden wie der verwundete Riese im Keller? Wußte es vielleicht keiner? Ja, dachte er wieder, alles, was er gelesen hatte, ähnelte der Wirklichkeit so wenig wie ... wie der General in dem großen vergoldeten Rahmen. Und das war nur der erste Tag. Jesus, hilf uns! Der erste Tag! Und es würde noch viel schlimmer kommen. ‚Hör auf, dich zu zieren, Mann!’ sagte er sich, ‚und gehe diese Treppe hinunter.’

      Ein langgezogenes schweres Stöhnen erklang, das bei seinem Versuch, den Schmerz zu besänftigen, auf unheimliche Weise musikalisch wirkte, das die Tonleiter hinauf- und hinunterstieg und sagte: Hör zu, Schmerz, ich tue mein Bestes, mein Bestes, um etwas Neues zu produzieren, das dir gefallen könnte. Willst du nicht weggehen? John eilte hinunter. Sein Herz wurde leichter. Er war nicht tot. War das etwas, worüber man froh sein konnte? Als er die letzte Stufe erreichte, schlug ihm der Gestank von Erbrochenem entgegen. Der Soldat war allein. Der Junge war fort. Das Stöhnen erhob sich zu einem hellen Wehklagen, das sich in ein unmenschliches Heulen verwandelte, so als hätte der Sergeant unter seiner Zunge einen kleinen Schlägel. John eilte, auf Blut schlitternd, zu ihm hin.

      “In Ordnung, Kumpel, ich bin hier.”

      “Du warst weg ... allein.” Der Mann weinte. ‚Maria, Mutter Gottes!’

      “Ich war zurückgeeilt. Die Bahre kommt jetzt. Wir holen dich hier raus.” Er fummelte mit der Spritze herum. “Du wirst in einem schönen warmen Bett im Krankenhaus liegen, und eine hübsche Schwester wird dir ein Thermometer in den Mund stecken, und ich gebe dir jetzt eine Spritze.”

      “Ja, ja! Gib mir ‚ne Spritze. Gib mir ‚ne Spritze, Kumpel. Gib mir ‚ne Spritze und hol mich hier ... Wasser!” Die Stimme erhob sich mit einem schrillen geistlosen Wehschrei.

      “Gewiß, gewiß, und jetzt sei schön ruhig. Du wirst sehen ...” Er stach die Nadel durch den Stoff der Hose in den Oberschenkel, schob mit dem Daumen den Drücker rein und setzte sich zurück auf die Fersen.

      “Gib mir ‚ne Spritze!” schrie der Sergeant.

      “Ich hab’ dir gerade eine gegeben, warte, sie wird gleich anfangen zu wirken. Bald bist du im Land der Träume.” Ein paar Augenblicke lang war es still.

      “Wirkt nicht, Kumpel, gib mir noch eine. Noch eine”, bettelte er winselnd und jammernd.

      “Es braucht etwas Zeit. Gib ihr ein paar Minuten ...” Zerrende laute Geräusche entstiegen dem Mann. John wartete eine Ewigkeit. Schließlich war es still. Plötzlich schnarchte der Soldat wie eine verrostete Fahrradkette. Es setzte sich endlos fort und brachte einen schmerzvollen Zyklus nach dem anderen hervor.

      “Gimmirne Spritze, Kumpel”, bettelte der Mann und schnarchte wieder. Langsam erstarb auch dies. Sanft und unerwartet setzte ein anderes Geräusch ein. John neigte sich vor, um das pfeifend erklingende Lied zu hören. Mit dem Tonfall eines kleinen Jungen kam die Melodie von “Morgen kommt der Weihnachtsmann”. John fuhr sich mit der Hand über Augen und Wangen, hörte sitzend dem unmusikalischen Delirium zu und wartete. Am oberen Ende der Treppe klapperte es. Er nahm das Gewehr aus dem Schoß.

      “Liegt hier der Fall für die Krankenbahre?” kam eine Stimme. Ein kleines rotes Licht glühte auf und entfernte sich.

      “Hier unten.” Er richtete die Taschenlampe auf die Stufen und erblickte einen Mann, der durch den Rauchwirbel seiner Zigarette hindurchspähte. Der Mann kam herunter, und seine Bahre hüpfte hinter ihm her.

      “Er ist sehr groß”, flüsterte John. “Wo ist dein Kumpel?”

      “Ich bin allein. Da ist niemand anders.”

      “Aber