Für Cornelius war es Schwäche, anderen zu schmeicheln, nur um vielleicht damit etwas zu erreichen. Damit machte er sich aber das Leben selbst unnötig schwer und verstärkte seine Isolation. Mit etwas mehr Anbindung an seine Lehrer im Seminar und das Gespräch mit ihnen suchend, hätte er vielleicht etwas weniger Bedenken vor der Zukunft gehabt. Wie viel Freiheit ihm noch bleiben würde? Wo würde ihn seine Gnaden hinschicken, in welche Gemeinde? Er sehnte sich, er suchte nach Ratschlag für den Umgang mit Mitmenschen!
All die vielen Stunden, Tage, Wochen im Seminar hatten nicht ausgereicht, ihn auf wirkliche Seelsorge vorzubereiten, priesterlicher Mittler zwischen Gott und den Menschen in einer Gemeinde zu werden. Es wurde keine Beichte geprobt, auch nicht, wie er sich verhalten sollte, wenn ihm wirkliche Seelennöte anvertraut würden. Wie konnte er die Trauer eines Menschen mittragen, Trost spenden? Stattdessen wurde in der Unterweisung im Seminar reichlich Liturgie geübt - die Heilige Messe, die Trauung, die Taufe, die Kommunion. Selbstverständlich waren das wichtige Sakramente, die dem Priesteramt vorbehalten waren und die er im Schlaf kennen musste. Er für seinen Teil meinte aber, dass eine gute Predigt zentrale Bedeutung hatte. Dieses kommunikative Rüstzeug effektiv einsetzen zu lernen, das hätte er sich gewünscht, um richtig gut zu predigen, seine Hörer in der Verkündigung der 'Guten Botschaft’ mitzureißen. Stattdessen befürchtete er in seinem Sermon in Sphären abzuheben, denen seine Zuhörer nicht folgen konnten. Beschämend hatte Cornelius in unnützem Hochmut die Einstellung, dass eigentlich die meisten Menschen kaum wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen. Obwohl noch so jung, war diese negative Denkweise bei ihm leider tief verwurzelt. Viel zu häufig hatte er kopfschüttelnd beobachtet, wie einfach Menschen manipuliert wurden. Er empfand tiefe Verachtung gegen alle, die es taten, aber ebenso für die Maltraktierten, die es widerstandslos über sich ergehen ließen.
Zu dieser inneren Haltung, die er zum Glück meist verbergen konnte, kam noch der Umstand seines Äußeren. Er wusste zu gut, dass seine schlechteste Visitenkarte auf Mitmenschen sein Aussehen war. Seine blässliche Gesichtsfarbe mit dem geringen Bartwuchs auf den Wangen verriet nicht mehr viel von der Bräune, die ihm Algerien hinterlassen hatte oder die Sonne auf seiner Haut auf dem Schiffsdeck nach Colón. Sein Blick war zu starr, was die schönen blauen Augen hinter der randlosen Brille auch nicht zu mildern vermochten. Die schmalen, meist zusammengepressten Lippen, brachten kaum ein Lächeln hervor und das glatte, akkurat gescheitelte, dunkelbraune Haar unterstützte nur noch die zur Schau getragene Strenge. Seine neue, bis zu den Füßen reichende Soutane hing mehr an ihm, als dass sein hagerer Körper sie ausfüllte und aus dem ringförmigen, steifen, weißen Kollar ragte sein dünner Hals wie ein Pfahl. Das Birett thronte viel zu hoch auf seinem großen Schädel mit der hohen Stirn, was ziemlich lächerlich aussah, weshalb er die Kopfbedeckung meist in der Hand drehte. Ja, man hatte Mühe, ihn attraktiv und sympathisch zu finden. Wie gerne würde er als Kompensation für dieses Aussehen dann manchmal nur einfach herzlich lachen, wenn das sein angeborener idiotischer Ernst und Konservatismus nur erlaubt hätte.
Priesterstand
9 Landausflug
Er war nun tatsächlich ein frisch gesalbter Priester, ein Presbyter seiner Kirche. Das erzeugte in ihm aber leider nicht die Emotion, dadurch reifer geworden zu sein. Er saß im Seminar herum und hatte Schulden an den Bischof für seinen Talar und das Birett, die sichtbaren Zeichen seiner neuen Amtswürde. Aber er fühlte sich unbehaglich in dieser schwarzen Kleidung, sie war viel zu unbequem in der feucht-tropischen Hitze. Er erinnerte sich an den weißen Burnus in Algerien, der den heißen Temperaturen viel besser angepasst war. Am schlimmsten zerrte das Warten auf seine erste Pfarre an seinen Nerven, die Ungewissheit der Entsendung. Er konnte noch so ungeduldig sein, der Generalvikar ließ sich Zeit, wollte nichts herausrücken. Er hasste es, von anderen abhängig zu sein, hütete sich aber, dies merken zu lassen.
Es bedrückte ihn immer noch sehr, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er eine Gemeinde als Seelsorger leiten sollte. Wie hatte er das nur anzustellen? Umso mehr hoffte er darauf, wenigstens in der ersten Zeit von einem älteren, erfahrenen Mitbruder im Amt gestützt und unterwiesen zu werden. Er war noch kein Seelsorger, Hirte seiner Schafe, der Messen lesen, Predigten halten, Beichten hören und absolvere sagen konnte. Wie gern hätte er sich in diesen Momenten jemandem anvertraut, mit seinem Bruder Caspar, oder noch besser mit seiner Mutter, über seine Nöte gesprochen. Aber es gab ja niemanden für ihn.
Der Bischof avisierte, während der Woche, abends, falls er dazu bereit wäre, die Heilige Messe für Verstorbene lesen zu dürfen, sofern denn zahlungskräftige Bitten von Hinterbliebenen dafür gab. Einen Teil der Stipendien würde er ihm gut schreiben. Das sah er als eine willkommene Chance, seine Schulden abzuzahlen und nebenbei ein wenig bis zu seiner festen Anstellung zu verdienen. Kost und Logis im Seminar, wenn auch spartanisch und kümmerlich, waren immer noch frei. Er brauchte Beschäftigung, musste etwas tun, nur raus aus diesen vier Wänden! Am besten sich die Stadt anschauen solange ihm noch Zeit dazu blieb, denn er hatte ja wirklich noch nicht viel von seiner Umgebung, außer dem Seminar, gesehen. Er hätte auch gerne das Land und die Eingeborenen kennengelernt, allerdings brauchte er dazu eine Transportmöglichkeit, eine Kutsche oder wenigstens ein Pferd, aber dafür fehlte ihm das nötige Geld. Also musste die Stadt per pedes mit ihm vorlieb nehmen.
Die meisten Straßen und Gebäude waren außerhalb des Zentrums in keinem guten Zustand. Vieles erinnerte noch an die Kolonialzeit, ja an vielen heruntergekommenen, verwitterten und mit Pflanzen aus allen Ritzen bewachsenen Fassaden, schien die Zeit seit der Unabhängigkeit stehen geblieben zu sein. Die Avenida Central war dennoch beeindruckend mit ihren dreistöckigen Geschäftshäusern, den breiten Balkonen mit prächtig verzierten Balustraden im ersten und zweiten Stock, den großen, hohen Bogenfenstern im Parterre und den weit offenstehenden Toren, die häufig einen Durchblick in schattige Innenhöfe gewährten, bepflanzt mit Bäumen und blühenden Kübelpflanzen. Es wuchs ja alles im Überfluss in diesem Tropenklima. Cornelius stellte sich sarkastisch vor, dass selbst ein Finger, nur lange in die Erde gesteckt, wahrscheinlich auch Wurzeln treiben würde.
Die vielen Menschen überall auf den Straßen, häufig ärmlich angezogen, waren meist die Kinder von Mischlingen aus Schwarzen mit Indios oder weißen. Sie waren Straßenhändler, die versuchten mit allerhand billigem Tand zu feilschen, bunten Papageien, schön geformten Muscheln, reifen Orangen und Bananen, eben Kram, an das sie ihre Hand mit wenig Geld legen konnten. Letztlich fühlten sie sich als eigenständige Unternehmer, die überall herum schwärmten und keinen in Ruhe ließen, der auch nur im Entferntesten aussah ihnen etwas abkaufen zu können. Für Cornelius war es vollkommen unverständlich, wie viele Straßenjungen sich fortwährend und persistent anboten, Schuhe putzen zu wollen. Wies man sie zu barsch ab, musste man gewärtig sein, einen dicken Klumpen Wagenschmiere auf die Schuhe geworfen zu bekommen, was leicht auch auf dem Hosenbein oder auf dem langen Rock der Damen landen konnte. Daraus erwuchs sehr schnell die Bereitschaft, seine Fußbekleidung den Lausejungen zur Reinigung freizugeben. Cornelius' Soutane wirkte offenbar wie ein Schutzschild. Die Kleinhändler machten einen weiten Bogen um ihn herum, ja viele, besonders die Älteren, zogen sogar ihren Hut vor ihm. Diese Bevorzugung war für Cornelius eine ganz neue Erfahrung, was er aber, wie er sich eingestand, für gar nicht so übel empfand.
In der Hauptstraße entdeckte er einen stattlichen Laden mit einem deutschen Namen an der Hausfront. Bereits vor seinem Stadtrundgang hatte er erwogen, falls erschwinglich, einen fein geflochtenen Panamahut zu erstehen. Die Einheimischen nannten ihn korrekt Jipijapa. Dieses Kunstwerk aus gelbem Toquillastroh hatten die Leute aus den Dörfern Ecuadors erlernt, wo dieser wundervolle Hut ursprünglich herkam und nun über das Handelstor Panama die mondäne Welt eroberte. Er hielt eine solche Kopfbedeckung für viel bequemer als sein Birett und bestimmt auch seinem Ornat angemessen. Im Schaufenster sah Cornelius genau diese Hüte. Im Laden gab es, soweit er erkennen konnte, keine weiteren Kunden. Hinter den langen Theken standen einige lokale Bedienstete, die erwartungsvoll zu ihm herüberblickten, als er eintrat. Ein Herr, etwas älter als er, gut