Aus den Augenwinkeln erhaschte Cornelius einen Schatten, der keiner war, denn der sprach ihn nun in gebrochenem Deutsch mit französischem Akzent an. Es gab für unseren Gartenstudiosus verschiedene Möglichkeiten diese Störung los zu werden. Er konnte sich schlafend stellen, in der Erwartung, dass der Schatten sich davonschlich, er konnte vorgeben nichts zu verstehen oder sich auf eine Unterhaltung einlassen. Er entschloss sich für das Letztere und öffnete vollends die Augenlider. Vor ihm stand ein großgewachsener Mann in reichlich verwaschenem, zerknautschtem, weißen Leinenanzug, dessen Fasson schon bessere Tage gesehen hatte. Aber nicht zu verleugnen, seine Kleidung war erheblich komfortabler an das warme Klima angepasst, als Cornelius' Anzug aus dunklem Wollstoff. In seinem unverkennbaren französischen Deutsch stellte sich sein Gegenüber mit einem sehr kleinen Kopfnicken vor: »Bitte erlauben Sie mir, Sie in ihren Studien zu unterbrechen, ich bemerkte Sie lesen ein deutsches Buch. Ich nehme an, Sie sind kein Amerikaner?«
Sein Deutsch war wirklich sehr holperig, worauf Cornelius sofort bereit war, seinem Gegenüber auf Französisch zu antworten. Die Erwiderung kam überschwänglich in der Muttersprache des Franzosen.
»Bitte halten Sie mich nicht für aufdringlich Sie sans phrase anzusprechen, aber ich versuche schon seit Tagen mit diesen Leuten hier auf dem Schiff in eine vernünftige Unterhaltung zu kommen. Ist vollkommen utopisch. Alle sprechen nur diese unmögliche englische Sprache, als müsste alle Welt sie verstehen, ich glaube, die haben einfach keine Bildung. Ich habe mir erlaubt Sie schon eine ganze Weile zu beobachten, wie Sie da so alleine herumsitzen und dachte mir, dass wir wohl Leidensgenossen sein könnten. Et voilà, ich habe mich nicht getäuscht. Ich bin Maître Barbier, Paul Barbier von Toulouse und Advokat von Beruf.«
Cornelius versuchte erst gar nicht sich aus seinem niedrigen Stuhl zu erheben, reichte nur seine ausgestreckte Hand. »Das ist richtig, Herr Rechtsanwalt, ich bin Deutscher, kein Amerikaner, habe einige Zeit in Ihrer schönen Heimat zugebracht.«
Barbier schien richtig unter der gesellschaftlichen Dürre der vergangenen Tage gelitten zu haben, denn er sprühte buchstäblich mit jemandem in seiner Sprache zu plaudern.
»Ich arbeite für die SCICIO und muss ......«
Er merkte, dass ihm sein Gegenüber nicht folgen konnte, denn es traf ihn ein fragender Blick.
«Oui, oui, je comprend, ich verstehe, sie wissen nicht was SCICIO bedeutet. Habe ich mir von den Amerikanern schon so angewöhnt, diese Abkürzungen. Also, ich arbeite im Auftrag der Société Civile Internationale du Canal Interocéanique. Habe für die Gesellschaft in Panama alle Aktivitäten rechtlich abzuwickeln. Im Vertrauen gesagt, die Zahlungsunfähigkeit dieses Unternehmens ist eine sehr, eine äußerst delikate Angelegenheit, ja, ich muss gestehen, ein Skandal, das kann ich Ihnen versichern. Ich bin nun schon auf meiner vierten Reise nach Panama. Habe bereits so manches Mal um mein Leben bangen müssen, nicht nur in Panama, sondern sogar in Frankreich. Ich weiß nicht, was in der Presse größere Wellen geschlagen hat, das Furore über den Kollaps der Gesellschaft in meinem Heimatland mit all den vielen Besitzern von jetzt wertlosen Aktien und Anleihen, oder die totale Kakophonie der Benachteiligten in Panama. Der wirtschaftliche und politische Schaden ist unübersehbar, auch Graf von Lesseps ist finanziell und gesellschaftlich vollkommen ruiniert.«
Barbier merkte, dass er sein Gegenüber mit seinen emotionalen, für Cornelius abstrakten Schilderungen völlig überforderte. Wie konnte er auch erwarten, dass ein Außenstehender seine Erregtheit über diese, nun schon drei Jahre zurückliegende Perfidie teilen konnte, die ihn zwar geschäftlich sehr in Anspruch nahm, mit deren üblen Auswirkungen und dem damit verbundenen Unrecht sich sein gerader Charakter aber nicht identifizieren wollte.
»Kommen Sie, mon jeune ami, wenn Sie mir erlauben, Sie so ansprechen zu dürfen, also wenn ich schon Ihre Aufmerksamkeit so lange in Anspruch genommen habe, und wo wir zwar nicht aus dem gleichen Land, aber doch vom gleichen Kontinent kommen und die selbe Sprache sprechen, lassen Sie sich bitte von mir zum Mittagstisch einladen, der Salle de Restaurant wurde gerade geöffnet.«
Cornelius ließ sich nicht lange bitte. Er war zwar kein Connaisseur guter Speisen, aber sein Naturell liebte gut zu tafeln. Die Tische waren nobel mit weißem Damast eingedeckt, neben edlem Porzellan lagen Silberbestecke auf Messerbänkchen. Die Speisekarte wurde den Gästen von kleinen China-Männern kredenzt, deren langer, geflochtener Haarzopf auf ihrem Rücken auf und nieder hüpfte, wie sie so mit schnellem Schritt von Tisch zu Tisch eilten. Ihre weiten, weißen Hosen unter schwarzer Bluse gingen nur bis zu den Waden, was etwas clownhaft wirkte. Die angebotene Vielfalt des Menüs war für Cornelius absolut überwältigend. Die Auswahl fiel ihm schwer. Am liebsten hätte er mit dem obersten Angebot angefangen und sich allmählich durchgefuttert.
Maître Barbier beobachtete sein Gegenüber amüsiert, aber nicht ohne Wohlwollen. Cornelius startete mit der Suppe, wählte den Halibut und dann das Rib Beef mit all den Entrees und was dazu gehörte. Bei der Nachspeise hatte sein Magen schon etwas Schwierigkeiten, aber er schaffte noch eine. Dazu wurde ein köstlicher, trockner, französischer Weißwein gereicht. Was brauchte der Mensch mehr zum Wohlsein! Cornelius gestand sich ein, dass die gehobene Klasse zu reisen wusste, ein Luxus, das war ihm klar, den sein zukünftiger Lebensweg niemals erlauben würde. Das hieß für ihn, besser jetzt genießen, solange es sich bot. Er hatte keinerlei Gewissensbisse. Herr Barbier konnte höchst interessant über Panama erzählen, Details, von deren Nützlichkeit er bestimmt in Zukunft profitieren konnte. Wieder einmal dankte er der gütigen Vorsehung und zog sich wohlgenährt und zufrieden zur Siesta in seine Koje zurück.
Man traf sich auch gelegentlich auf Einladung des Maître zum Frühstück. Trotz Pleite am Kanal reiste der Franzose mit einem, von seinem Klienten gut ausgestatteten Spesenkonto. Die Auswahl bei Tisch war echt begeisternswert. Da wurden verschiedene Eiergerichte mit gebratenem Bacon angeboten, Toast und Muffins, dazu leicht gesalzene Butter zu echter englischer Chivers Orangenmarmelade, die er bis dahin natürlich noch nicht gekannt hatte, aber nun um so mehr genoss, Hühnchen und geräucherten Fisch, Black Pudding, den er lieber nicht anrührte, baked beans, duftender, englischer Tee, frisch gepresster Orangensaft und gerade kurz vorher aufgebrühter Kaffee aus Bohnen von Guatemala, sein Lieblingsgetränk. Auf der Speisekarte stand 'Kontinentalfrühstück', damit meinte man das ferne Europa. In der Neuen Welt schien man den Morgen spartanischer anzugehen und diese Fülle nicht zu kennen. „Welch ein Glück mit einer solch soliden Tradition des Alten Kontinents seinen Tag zu beginnen“, sinniert Cornelius. „Das hält so richtig Geist und Körper von der Morgenstunde bis zum Abend zusammen.“
7 Panama
Als Cornelius in Aspinwall von Bord ging, umkreiste ihn eine Horde kleiner halbnackter, brauner Straßenjungen, die nichts Besseres zu tun hatten, als partout sein weniges Gepäck tragen zu wollen. Er konnte sich nur mit einem 10-Cent Stück befreien, das noch von New York in seiner Westentasche steckte. Er drückte es einem Bengel in die offene Hand, der die Münze über-glücklich in die Höhe warf, geschickt wieder auffing, seinen Seesack schnappte und wie selbstverständlich in Richtung Front Street zur Bahnstation losmarschierte, wo der Zug mit den grell-gelb angestrichenen Waggons der Panama Eisenbahn schon auf Passagiere in Richtung Hauptstadt wartete. In zwei Stunden sollte Abfahrt sein, ein sehr langes Gedulden, denn er sah weit und breit absolut nichts Sehenswertes. Um ihn herum waren nur Farbige, Strandgut der eingewanderten und am Leben gebliebenen Arbeiter, erst vom Bahnbau und später vom misslungenen Kanalaushub. Die Hütten waren desolat und mit Ried gedeckt, die kaum Wohlhabenderen lebten in Behausungen unter Wellblechdächern. Die Menschen lagen lethargisch in ihren Hängematten, umgeben von Unrat, frei herumstreunenden Schweinen, Hühnern und räudigen, haarlosen, wundgebissenen Hunden, die kläffend im Abfall herumwühlten. Der Gestank war erbärmlich. Die Kleinkinder tollten rotzend und schreiend auf den Schlammpisten, terrorisiert von den gelangweilten Halbwüchsigen, um die sich niemand kümmerte. Der ständige Regen hatte alles in einen Morast verwandelt, Brutstätte für die allgegenwärtigen Moskitos, diese ewig drangsalierenden Stechmücken. Alle lebten von der Gnade der Eisenbahn und des Schiffsverkehrs, der ihnen ab und