»Ich würde Ihnen, dem armen Teufel, den Unterricht gern umsonst erteilen, aber Sie wissen ja, daß ich das bei meinen Gehaltsverhältnissen nicht kann. Sie werden das überstehen und vielleicht einst wohlhabender werden, als ich bin. Denken Sie dann an Ihren alten Kantor, der Ihrer ersten Motette auf die Beine geholfen hat. Nehmen Sie das Leben auch fernerhin so ernst wie jetzt, und nun für heut, leben Sie wohl!«
Dieser brave Kantor, der mir stets mit gleichem Wohlwollen entgegenkam, gehört zu denjenigen Personen, denen ich noch jetzt, nach langen Jahren, eine unverminderte Dankbarkeit widme. Man wird später erkennen, warum ich diese freundliche Scene von ihm erzählt und dabei keinen Namen genannt habe. Er war ein Ehren- und humaner Mann, verlegte aber seine Welt nur in das kleine Notenzimmer, weil er auf Familienglück hatte verzichten müssen. Man kannte seine Frau als arge Xantippe, die, wie man sich erzählte, den einzigen Sohn, den sie besaßen, durch ihre Härte nach Amerika getrieben hatte. –
Ich war also im Besitze von fünfundfünfzig Thalern; damals welch ein großartiger Reichtum für mich! Es war mir zu viel; ich war ja gesund und konnte arbeiten. Dreißig schickte ich meinen armen Eltern; zwanzig legte ich für unvorhergesehene Bedürfnisse zurück, und fünf bestimmte ich zu einer Weihnachtsreise, auf welcher ich mich ausnahmsweise einmal recht splendid behandeln wollte. Fünf harte Thaler zu einer Reise von höchstens einer Woche, die konnten ja gar nicht alle werden! Noch mehr als zwanzig Groschen pro Tag, das mußte ja das reine Schlaraffenleben werden! Ich munkelte sogar ganz heimlich schon davon, natürlich zu mir selbst, daß ich mir unter Umständen eine halbe Flasche Wein, natürlich so billig und aber auch so gut wie möglich, gestatten werde. Welche Sorte ich wohl wählen und wie hoch im Preis ich gehen dürfe, das beschäftigte mich sehr lebhaft täglich in der halben Viertelstunde, welche dem Einschlafen voranzugehen pflegte! Du glückliche Zeit, wie lange bist du vorüber und niemals, niemals zurückgekehrt!
Der Kantor machte sein Versprechen wahr; die Motette wurde eingeübt und Krüger mußte das dreistimmige Solo mitsingen, wofür er mich mit einem Haß bedachte, der mir manchen Ärger bereitete.
Dann erschien mein Weihnachtsgedicht; jeder Mitschüler wollte es haben; die betreffende Nummer des Blattes wurde infolgedessen in vielen Exemplaren von unserer Buchhandlung bezogen, und als nachher das allmonatliche Freideklamieren stattfand, so genannt, weil jeder sein Gedicht sich selbst wählen konnte, leiteten alle meine dreiundzwanzig Klassengefährten ihre rhetorischen Produktionen folgendermaßen ein: »Weihnacht, Gedicht von Karl May«. Ich war der einzige, welcher einem sogenannten Klassiker die Ehre erwies, auch mit genannt zu werden. Es wurde Mode, mein Gedicht im Notizbuch überall mit herumzutragen, um es bei jeder unpassenden Gelegenheit hervorzunehmen, und ich hatte das zweifelhafte Glück, noch monatelang mit Fragen bestürmt zu werden, warum ich grad diese und nicht jene Wendung gebraucht oder grad diesen und keinen anderen Reim gewählt habe. Es wurden Verse über Verse geschmiedet, bis die ganze Lehrerschaft sich endlich über die »Katheten und Moneten«, »Verbalien und Australien«, »Romulus und Fidibus«, »Multiplikant und Elefant« so erbost fühlte, daß unter dem Vorsitze des bereits genannten »Alten« beschlossen wurde, gegen diesen Unfug ohne Nachsicht vorzugehen. Die nun folgenden Verweise und anderen Strafen erreichten zwar ihren Zweck, hatten aber leider für mich die Folge, daß ich, der vorher so Vielumworbene, nun wie eine Selters- unter lauter Champagnerflaschen gemieden wurde, was den ebenso wohlbegründeten wie unerschütterlichen Vorsatz in mir wachrief, meine etwaigen Gedichte auf alle Fälle erst nach meinem Tode erscheinen zu lassen. Daß ich diesem Entschlusse bis auf einige wenige Ausnahmen treu geblieben bin, macht mich gewiß des Dankes der Mit- aber wohl schwerlich der Bewunderung der Nachwelt wert!
Was die oben erwähnte Weihnachtsreise betrifft, so pflegte ich in allen Ferien eine längere Fußwanderung vorzunehmen. Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten, was durch eine weite Gehtour am besten geschehen konnte. Dabei schloß sich mir meist ein mir sehr sympathischer Mitschüler an, der, wenn auch nicht so arm wie ich, aber doch ebenfalls zur Sparsamkeit veranlaßt war. Ein fleißiger und ernster Junge, pflegte er, außer mit mir, nicht viel zu sprechen und wurde deshalb Cyprinus Carpio oder kurz weg Carpio genannt, weil Karpfen bekanntlich auch nicht gern viele Worte machen. Wir pflegten unsere beiderseitige Barschaft zwar nicht in eine gemeinsame Reisekasse zu verschmelzen, aber doch der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen, was zur Folge hatte, daß der, welcher mehr besaß, sich stets bemühte, heimlich dafür zu sorgen, daß der gegenwärtig Ärmere nicht unter seinem augenblicklichen Proletariat zu leiden hatte. Es kamen da Beispiele von Selbstlosigkeit und Aufopferung vor, welche wirklich rührend waren, obgleich oder vielleicht grad weil es sich dabei um ganz geringe Beträge, um Groschen oder gar nur um Pfennige handelte. Das ganz natürliche Ergebnis dieses Verhaltens war, daß am Schlusse jeder solchen Reise bei beiden der Rest ihres Geldes genau derselbe war. Wenn einer unserer heutigen Finanzminister dabeigestanden und gehört oder gesehen hätte, mit welch einer weisen und bedachtsamen Wichtigkeit wir über die geringste Ausgabe verhandelten, er hätte von uns lernen können. Wir sind sogar einmal über den Fluß geschwommen, um zwei Kreuzer Fährgeld zu ersparen.
Dieser prächtige Junge wollte die von mir geplante Weihnachtsreise gar zu gern mitmachen, glaubte aber, daß ich ihn dieses Mal nicht mitnehmen wolle, weil er nicht mehr als zwei Thaler zusammenbringen konnte; da war ich gegen ihn doch der reine Millionär! Ich machte ihn aber durch die Versicherung glücklich, daß es einem solchen Millionär ein Leichtes sei, einen armen Teufel mit durchzuschleppen. Er mußte mit! Wir konnten die Wanderung nicht gleich mit dem Beginne der Weihnachtsferien antreten, denn es verstand sich ganz von selbst, daß wir die Feiertage bei unseren Eltern verlebten, und als wir dann am bestimmten Orte zusammentrafen – denn wir hatten natürlich wie alle bedeutenden Menschen ein »Rendezvous« verabredet, teilte er mir strahlenden Auges mit, daß sein Vater ihm einen Thaler zugelegt habe. Wir standen also nicht mehr 2 sondern 3 zu 5, und er hatte sich meiner Million ganz bedeutend genähert.
Und wohin sollte unsere Reise gehen?
Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden. Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden, und es gehörte schon ein ungewöhnlicher Entschluß nach einer vorhergehenden langen Konferenz dazu, wenn wir einmal einen andern wählten.
Eigentlich hatte diese treue Anhänglichkeit auch einen weniger psychischen Grund, den ich, nachdem wir ihn so lange geheimgehalten haben, heut doch einmal verraten will. Ich kann das nun ohne größere Gefahr thun, weil wir jetzt doch nicht mehr da oben herumsteigen und also andere, ebenso würdige Menschen von den Vorteilen unseres Geheimnisses profitieren lassen können.
Es gab eine für uns sehr wichtige Ursache, welche uns stetig oder vielmehr unstet zwischen Österreich und Sachsen hin und her pendeln ließ. Diese Ursache hieß: Kurs, der Geldkurs nämlich. Man glaube ja nicht, daß nur wirkliche, faktische Millionäre sich mit den Geldkursen zu beschäftigen haben, o nein; je weniger man besitzt, desto wichtiger wird der Kurs; das haben wir beide an uns selbst erlebt. Damit soll freilich nicht etwa gesagt sein, daß folglich der Kurs für den am allerwichtigsten sei, der gar nichts besitzt, sondern es müssen zwei tüchtige Geldleute zusammentreten, welche gewisse, sichere Fonds besitzen, z.B. der eine drei und der andere fünf Thaler; die machen eine Reise, eine sogenannte Kursreise, von welcher sie, besonders wenn sie dem privilegierten Stande buntbemützter Schüler angehören, ganz ungeahnte Vorteile ziehen können. Aber pfiffig muß man sein, und Schüler muß man sein! Warum, das werde ich gleich erklären.
Wie steht heut der Gulden? So und so! Hm! – – Wenn der gewöhnliche Sterbliche mit Thalern zahlt und Gulden heraushaben will, dann stehn die Thaler schlecht. Zahlt er Gulden und will Groschen haben, so stehen die Gulden schlecht. Und will er sich überzeugen, so ist kein Kurszettel zu haben. Tritt aber ein ungewöhnlicher