Friedrich Karl Eckstein hätte gut und gerne einen Vortrag über das ›Prager-Eltern-Kind-Programm‹ und all die anderen von Bea empfohlenen Programme zum ›Baby-Turbo-Tuning‹ halten können. Denn er wusste sehr viel darüber – theoretisch jedenfalls. In dieser Hinsicht stand er Hubi in nichts nach.
Und nun sollte er das segensreiche PEKIP-Programm am eigenen Leib erfahren.
Gott sei Dank!
Als Bea und Kerstin den überhitzten Seminarraum der Volkshochschule betraten, seufzten die versammelten Mütter im Chor gemeinsam auf, dann stöhnten sie den Ankömmlingen »Endlich!« entgegen.
Fritz blickte sich um. Seine Fortbildungskollegen erweckten nicht gerade einen euphorischen Eindruck. Eher war das Gegenteil der Fall. Die meisten der gut ein Dutzend Babys waren übellaunig und quengelten herum. Drei der PEKIP-Kursteilnehmer demonstrierten ihr grundsätzliches Desinteresse an solch einer pädagogischen Zwangsbeglückung, indem sie demonstrativ schliefen.
Aber der kleine Fritz war glockenwach und gut gelaunt. Das änderte sich jedoch schnell, als er der entsetzten Mienen gewahr wurde, die ihn wie einen Aussätzigen anstarrten.
»Ella Neffa Neztolg«, brabbelte er vor sich hin. Wenn er sich zu sehr aufregte, fiel er manchmal in seinen alten Sprechduktus zurück.
Die Mütter reagierten sichtlich geschockt auf seine rhetorischen Fähigkeiten. »Was war das denn eben?«, stieß eine von ihnen entgeistert aus. »Kann der etwa schon sprechen?«
Dabei stach ihr Zeigefinger wie ein Florett auf Fritz ein. Friedrich Karl Eckstein spürte jeden einzelnen dieser Stiche.
»Nein, richtig sprechen kann er in seinem Alter natürlich noch nicht«, erklärte Bea. »Aber mein Fritzchen verfügt über eine vorsprachliche Eloquenz, die unter seinen Altersgenossen ihresgleichen sucht«, protzte sie wie zehn entkleidete Eingeborene.
In einer konzertierten Aktion lupften alle Premium-Mütter gleichzeitig ihre gezupften Brauen.
»Das wurde ihm erst vor Kurzem von einem Linguistik-Professor attestiert«, setzte Beatrice Eckstein den Fangschuss. »Er möchte Friedrich unbedingt in seine Hochbegabtengruppe aufnehmen.«
Auch das war natürlich gelogen – und zwar so doll, dass sich im PEKIP-Seminarraum die Deckenbalken eigentlich hätten durchbiegen müssen. Trotzdem freute sich der kleine Fritz – und zwar diebisch.
Jawohl Bea, diesem blöden Gaffervolk hast du’s eben richtig gegeben, jubilierte er klammheimlich – und wunderte sich darüber, dass niemand dem inhaltlichen Schwachsinn widersprach, den seine Mutter gerade von sich gegeben hatte. ›Vorsprachliche Eloquenz‹ – da lachen ja die Hühner! Aber diesen dummen Hühnern hier kann man wohl alles erzählen.
»Kinder von Spätgebärenden sollen ja angeblich besonders intelligent sein«, bemerkte die einzige junge Mutter im Raum. Im Gegensatz zu den abgeschlafften Tantchen hatte sie augenscheinlich ihre besten Jahre noch vor sich. »Ich hätte wohl auch noch besser einige Zeit mit meiner Schwangerschaft gewartet«, fügte sie zerknirscht hinzu.
»Ja, meine Liebe, das wäre sicherlich für Sie und Ihr Kleines besser gewesen«, posaunte Bea in die Runde der betagten Mütter. »Im Gegensatz zu Ihnen konnten wir uns vorher noch richtig ausleben und das kinderlose Dolce Vita in vollen Zügen genießen.«
Kann man denn mit einem Kind nicht richtig leben, sein Leben nicht genießen?, fragte sich Friedrich Karl Eckstein, während die ihrer Menopause harrenden Mütter aufseufzten und im Gleichtakt nickten.
»Ich denke, wir sollten nun endlich mit dem PEKIP-Programm beginnen«, verkündete eine dickleibige Frau, die anscheinend hier das Sagen hatte.
Sie hatte kein eigenes Baby dabei. Jedenfalls konnte Fritz keines entdecken.
Das hat sie bestimmt zu Hause gelassen, weil sie bei ihrer Arbeit nicht gestört werden will, erklärte sich Fritz diesen Umstand. Oder vielleicht ist sie ja auch in anderen Umständen, wie Oma Paula manchmal über eine Frau mit einem dicken Bauch sagt.
Vielleicht hat sie ja auch gar kein selbstgemachtes Baby, sondern sieht ihre Lebensaufgabe darin, sich um die Kinder andere Mütter zu kümmern. So wie Bea, die eigentlich auch lieber kein Kind hätte und stattdessen noch mehr Elternratgeber schreiben würde.
Ach, sie hat ja doch ein eigenes Baby dabei, stellte Fritz erstaunt fest, als die Gruppenleiterin ihre Tasche öffnete und ein nacktes Beinchen zum Vorschein kam.
Siehst du, Kerstin, selbst die Chefin wickelt ihr Baby nicht in einen alten Vorhang ein. Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen.
Nein, der Kollege ist ja gar nicht aus Fleisch und Blut. Das ist ja nur eine Puppe, eine nackige Puppe! So eine hat Hubi auch, allerdings ist die viel größer und hat …
Weiter kam er nicht, denn die Puppenmama schnitt ihm mit ihrer schneidenden Stimme den Gedanken ab. »Wie immer beginnen wir mit der Befreiung unserer lieben Kleinen«, tönte sie wie eine Hamburger Fischverkäuferin.
Befreiung wovon?, fragte sich Fritz verdutzt.
Auch Bea schien im ersten Moment nicht so recht zu begreifen, worauf die Chefin mit dieser Aufforderung hinauswollte, obwohl sie doch eigentlich eine PEKIP-Expertin war – theoretisch zumindest.
Doch dann ging ihr das berühmte Lichtlein auf. Sie nickte und tat es den anderen Müttern gleich: In einer überfallartigen Aktion rissen sie der übertölpelten Brut die Kleider vom Leib. Fritzchen wehrte sich verzweifelt, aber er hatte keine Chance. Noch nicht einmal die Windel durfte er anbehalten.
Nun war er nackt, split-ter-fa-ser-nackt!
Und das vor all diesen fremden Leuten, diesen Gaffern, die ihre aufdringlichen Blicke wie Saugnäpfe auf ihn hefteten.
Fritz wurde rot, puterrot sogar!
Aber das störte diese altersgeilen Fleischbeschauerinnen nicht! Sie glotzten einfach weiter auf die zentrale Stelle seines Leibes, die sich südlich seines Nabels befand. Dorthin, wo er für sein knabenhaftes Alter schon mächtig entwickelt und behaart war. Und zwar mit dem gleichen pechschwarzen Gewächs, das aus seiner Kopfhaut spross.
Die Gafferinnen kicherten wie pubertierende Schulmädchen. Mit einem Mal wurde es Bea zu bunt und sie bedeckte Friedrich Karl Ecksteins entblößte Scham mit der Windel. Fritz warf ihr einen erleichterten Blick zu. Zum ersten Mal in seinem Leben war er ihr richtiggehend dankbar.
Es wäre doch viel lustiger, wenn diese alten Weiber nackig wären, grinste sich Fritz eins. Dieses schlaffe Gammelfleisch …
Er schaute hinüber zu einem Kollegen, der gerade eine schöne Bogenlampe in den Hexenkreis hineinpullerte. Danke, Kumpel, das nenne ich Solidarität!
Kerstins Kopf lief tomatenrot an. »Oh nein, was für eine Sauerei! Meine schöne, teure Babydecke. Und meinen armen Justus hat ihr blöder Balg auch noch vollgepisst«, beschimpfte sie die junge Mutter.
Weinend packte die einzige knackige Mama im Raum ihre sieben Sachen, die eigentlich nur vier Sachen waren, zusammen und flüchtete Hals über Kopf aus dem PEKIP-Refugium.
Nun waren die betagten Mütter mit ihren Senioren-Tamagotchis ganz unter sich. Elf förderbesessene Mütter, alle bereits jenseits ihrer statistisch errechneten Lebensmitte. Mütter, die nichts anderes im Sinn hatten, als das eigene Gelege exzessiv zu tunen.
Selbstverständlich nicht ohne eigennützige Hintergedanken. Denn mit einem optimal programmierten Säugling konnte die PISA-geschockte Elterngeneration am lebenslangen Bildungswettlauf teilnehmen und dabei in aller Ruhe die Konkurrenz beobachten.
Zudem konnte man sich mit einem leistungsstarken Nachwuchs auf dem Jahrmarkt der elterlichen Eitelkeit ins Rampenlicht katapultieren und ausgiebig mit den Leistungen der eigenen Brut herumprotzen.
Schließlich sollten die gedopten Früchtchen die zuckersüßen Früchte vom Baum des Ruhms pflücken, die man selbst nie erreicht hatte – weil die eigenen Arme dafür leider viel zu kurz geraten waren.
Aber