Der Vater schlurfte weiter Richtung Scheune. Hinter ihm trat Jakob aus der Hintertür. Er wurde von den Leuten im Dorf nur Mockemetzger genannt. Er war eher klein gewachsen, wirkte dafür umso kräftiger in seinen jägergrünen, etwas zu kurz geratenen Zwilchhosen. Vielleicht hatte er auch einfach nur die Hosenträger zu straff festgezurrt. Über seinen millimeterkurzen, dunklen Haaren trug der Mockemetzger eine schwarze Zipfelmütze. Er schaute finster drein, als er Emma und Röbi auf der Bank erblickte. Etwas anderes als ein grimmiges Gesicht hatte Emma auch noch nie bei ihm gesehen.
«Habt ihr nichts Besseres zu tun, als faul rumzusitzen?», schnauzte der Mockemetzger. Sein Blick ging an ihnen vorbei. Er begann zu husten und spuckte Kautabak aus.
«Wir brauchen Eier, Anna kommt gleich», sagte Emma schnell. Röbi verhielt sich ganz still und blickte starr zu Boden.
Der Mockemetzger beschleunigte seine Schritte und eilte seinem Vater nach. Er war der älteste Müllerssohn und rechnete fest damit, bald einmal den elterlichen Hof zu übernehmen. Wenn er keine Aufträge als Störmetzger hatte, arbeitete er auf dem Hof mit. Aber da wie dort fiel er nicht durch Fleiss und Zuverlässigkeit auf. Er war ein Einzelgänger, und er trank mehr Bier und sauren Most, als ihm guttat. Ein Taugenichts halt, wie man hinter vorgehaltener Hand in Altikon sagte. Vater Müller zögerte verständlicherweise noch mit der Übergabe des Heimwesens. Wer wusste, ob sich Jakob nicht doch noch zum Guten entwickeln würde.
Als der Mockemetzger im Dunkel der Scheune verschwunden war, atmeten Röbi und Emma auf. Anna kam mit den beiden Erni-Kindern zum Hinterhof. Das 2-jährige Trudi hopste ungestüm vor Anna her und verlor fast ihr gestricktes Jäcklein. «Halt Trudeli, nicht so stürmisch! Ich muss dir noch dein Jäckchen zumachen. Sonst hustest du dann wieder!» Seppli, 4-jährig, blieb ganz nah bei Anna stehen, als er Röbi sah. «Du musst keine Angst haben, Seppli», versuchte Anna den Jungen zu beruhigen. Trotzdem versteckte sich Seppli hinter Annas Röcken und lugte nur vorsichtig mit einem Auge hervor.
Da kam wie aus dem Nichts Samuel mit grossen Schritten auf sie zu. «Huuuuuu», heulte er, seine Hände hatte er zu Klauen gespreizt, sein Oberkörper war vorgebeugt. «Huuu-huuu! Da kommt der Bölima …», rief Samuel fröhlich und tat so, als ob er eines der Kinder packen wollte.
Seppli hatte sich indes rasch von seinem Schrecken erholt und kam mutig hinter Anna hervor: «Halt, Bölima!», rief er mit piepsiger Stimme. «Sonst gibt’s eins hinter die Ohren!» Dabei versuchte Seppli, grimmig dreinzuschauen. Trudeli schaute aus sicherem Abstand bewundernd zu. Samuel begann zu lachen. Er hob Seppli stürmisch hoch und warf ihn kurz in die Luft. Der Kleine kreischte vor Freude. «So. Fertig lustig. Ich muss zur Arbeit», sagte Samuel. Er stellte seinen jüngeren Bruder wieder auf die Füsse.
Als ob er Anna, Emma und Röbi erst jetzt bemerkt hätte, sagte er scheinbar überrascht: «Oh, Grüezi mitenand. Hoi Anna.» Dabei schaute er Anna ganz besonders aufmerksam an, wie es Emma schien. Sämis Augen waren überhaupt der Blickfang schlechthin: «Um diese tiefblauen Augen und seine besonders dichten, dunklen Wimpern muss jede Frau ihn beneiden», dachte Emma und wandte sich verlegen ab. Wenn er bloss ein bisschen älter wäre. Nur ein, zwei Jährchen …
«Hoi Sämi», sagte Anna gut gelaunt, «schön, dich wieder mal zu sehen.»
«Ich habe leider nicht viel Zeit, mein Vater wartet.»
Emma glaubte, einen Augenblick lang Enttäuschung auf Annas Gesicht gesehen zu haben, aber dann sagte Anna leichthin: «Vielleicht ein andermal. Tschüss Sämi.»
Anna, Emma, Röbi und die beiden Gofen griffen fünf Eier direkt aus dem Hühnergehege und Röbi und die Kinder freuten sich, als wären sie aus lauterem Gold. Röbi lachte und klatschte so aufgeregt, dass die Hühner in alle Richtungen verstoben. Der Hahn wusste nicht, ob er Angst haben oder seine Hühner verteidigen sollte, und alle hatten viel Spass. Anna holte weitere Eier, ein Mödeli Butter und zwei Flaschen Most aus dem Keller und Emma packte alles in ihren Korb. Die beiden Frauen verabredeten sich auf den Abend beim Dorfbrunnen.
Röbi und Emma stapften über den knirschenden Schnee nach Hause. Der Nachmittag verging rasch und bald schon mussten die Lampen im Haus angezündet werden. Gegen Viertel vor acht klopfte Emma an die Tür der Wohnstube, wo der Herr Pfarrer und seine Frau auf der Couch sassen. Die beiden lasen am Abend oft gemeinsam in der Bibel, manchmal spielten sie auch Schach.
«Brauchen Sie noch etwas?», fragte Emma und gab sich Mühe, nicht nur den Herrn Pfarrer anzuschauen.
«So so so …», sagte der Pfarrer gedankenverloren. «Nein Emma, danke. Du kannst Feierabend machen».
«Gehst du noch aus?», fragte Frau Wartmann lauernd, der nicht entgangen war, dass Emma bereits Mantel, Schultertuch und Hut in der Hand trug.
«Ich habe mich mit Anna beim Dorfplatz verabredet.»
«Na dann, einen schönen Abend, Emma», sagte Frau Wartmann fast freundlich.
Es schien Frau Pfarrer am Abend deutlich besser zu gehen. Aber sie blieb dennoch eine falsche Schlange, so zuckersüss zu tun vor dem Pfarrer. Merkte der Ärmste denn nicht, wie sie sich verstellte?
9. Am Brunnen vor der Türe
Es war schon dunkel, als Emma zur Tür hinaustrat. Sie ging nochmals zurück und suchte die Laterne mit dem handlichen Henkel, fand sie aber nicht. Der Schnee und der Mond tauchten die Nacht in milchig kaltes Licht und Emma machte sich kurz entschlossen ohne Lampe auf den Weg. Am liebsten wäre sie gerannt, aber richtig rennen schickte sich nicht für eine Frauenperson.
Ein paar Häuser vom Pfarrhaus entfernt wohnte Familie Beerli. Deren Kinder waren alle erwachsen. Nur Fritz, der Jüngste, lebte noch zu Hause. Er war bereits fünfundzwanzig und umwarb Emma seit Längerem. Fritz konnte einfach nicht akzeptieren, dass Emma nichts von ihm wissen wollte. Wer weiss, vielleicht lauerte er ihr schon wieder auf, dachte sie.
Aber Emma konnte ungestört ihres Weges gehen. Schon von Weitem sah sie, dass sie vor Anna beim Brunnen war. Dafür stach ihr auf dem Dorfplatz ein Automobil in die Augen. So etwas gab es selten zu sehen. Eine Horde zappeliger Kinder verstellte beinahe die Sicht. Schwarz, mit roten Holzspeichenrädern, einem braunen Verdeck und viel Messing, das im Mondschein schimmerte. «Martini» stand gut sichtbar in weisser Schrift auf dem Kühler. Martini aus Frauenfeld. Das wusste auch in Altikon schon jedes Kind. Aber kaum jemand hatte je einen solchen Wagen mit eigenen Augen gesehen. Heissa! Wem der wohl gehörte? Am liebsten wäre Emma noch näher herangetreten, traute sich aber nicht, ihre Neugierde so offen zu zeigen. Also stellte sie sich unauffällig neben den Brunnen, so, als ob ein Martini für sie etwas Alltägliches wäre. Immer wieder schielte sie aber verstohlen in Richtung des Wagens. «Schon allerhand, so ein Ding in unserem Dorf.» Am liebsten hätte sie sich hineingesetzt. «Eigentlich praktisch», überlegte Emma: «Dieser Wagen frisst kein Heu. Man muss ihn nur mit Benzin füttern, wenn man ihn braucht.»
Dann wurde es laut auf dem Platz. Emma bemerkte ein paar Männer, die vor dem hell erleuchteten Eingang der Kreuzstrasse mit Bierflaschen herumstanden. Emma zog sich instinktiv etwas hinter den Brunnen zurück. Sie erkannte Annas Bruder, den Mockemetzger, den ältesten der Ehrsams, und Fritz Beerli, der sie so aufdringlich verehrte. Den vierten Mann kannte sie nicht.
«Sag das noch mal, du Lump!», rief der Mockemetzger mit lallender Stimme und spuckte auf den Boden.
«Müllersöhnchen, Muttersöhnchen», trällerte Fritz. Auch er schien nicht mehr nüchtern zu sein.
«Und du, Prahlhans? Du wärst nichts ohne deinen Alten», schrie der Mockemetzger wütend. Er spie seinem Gegner die Worte förmlich ins Gesicht.
Emma beobachtete erschrocken das Handgemenge, das sich vor ihren Augen entwickelte. Die beiden Streithähne begannen einander zu schubsen. Bier schäumte aus den Flaschen. «Hee, stopp! Hört auf mit dem Seich!» Diese Stimme gehörte dem Fremden. «Jetzt beruhigt euch mal