Wenn man solches Billigzeug nicht kaufte, tat man dann etwas für faire Löhne in Bangladesch oder nahm man den Leuten dort auch noch die letzten miesen Jobs?
Schwierig.
Sie spülte den Teller rasch ab und wischte Küche und Bad feucht durch. Am besten ein, zwei echte Harris-Tweed-Blazer für je zehn Euro aus dem Classics!
Unterwegs gab sie endlich das Pfeffer-und-Salz-Teil in der Reinigung ab und wandte sich dann hoffnungsfroh der Philippinengasse zu.
Im Classics hatten sie prompt absolut gar nichts Gescheites und Tradition war freitags geschlossen. Doro spürte, wie ihre Laune sank, aber sie ermahnte sich selbst und stiefelte zum Fuggerplatz. Auch wenn sie nichts fand, der Fußmarsch von Selling in die Innenstadt sorgte doch wenigstens für Bewegung und frische Luft, und jetzt im Herbst roch alles so wunderbar morbide nach Moos und faulendem Laub. Und man konnte durch die Blätter auf dem Boden schlurfen, das raschelte so schön.
Und saute die Schuhe ein.
Egal, sie hatte die Schuhcreme ja wieder gefunden.
Der Laden am Fuggerplatz hatte einen Rollständer vor die Tür gestellt, und Doro klapperte die Bügel rasch durch.
Ach – braun-beiges Pepita? Reine Schurwolle? Größe 38? 15 Euro?? Sie hängte sich das Prachtstück schon einmal über den Arm und wühlte weiter. Dunkelgrauer Tweed mit bunten Einsprengseln, bildschön! Und innen: sattlila Futter, das Logo von Harris und schon wieder Größe 38. Okay, fünfzig Euro – aber so ein Stück war das wert, der war ja unzerstörbar! Solange sie ihre Figur hielt…
Sie hängte ihn zum ersten Fundstück und suchte weiter.
Crème, rosa, pink, eine Art Bouclé? Warum eigentlich nicht… nein, 44. Und der Samtblazer in leuchtendem Rot? Die goldenen Knöpfe waren allerdings entsetzlich. Wenn man die austauschte…
Nein, das machte sie ja dann doch nicht und das Ding hing nur blöd im Schrank. Lieber nicht.
Und der grüne dahinten? Schon ein schönes Stück – allerdings trug sie nie grün, schon gar nicht so einen Olivton. Der passte dann ja zu gar nichts.
Sie trug die beiden Blazer nach drinnen, probierte sie an, fand den Sitz überzeugend und bezahlte sie und ein wunderschönes Seidentuch, dass sie in einer Kiste neben der Kasse gefunden hatte und das nur zehn Euro kostete. 75 Euro und so eine Ausbeute!
Am Markt entdeckte sie im Kaufhaus noch Jeans in einer ganz dunklen Blaufärbung und mit einem sehr hohen Stretchanteil, fast schon Leggings. Die mussten ihre langen, schmalen Beine eigentlich gut zur Geltung bringen.
Und um die Ecke war diese gute, aber günstige Expressreinigung! Dort gab sie die beiden Blazer gleich ab. Morgen um eins. Wenn sie bis dahin alles vorbereitet hatte…
Ach, war das Leben perfekt! Sie schaute sich auf dem Marktplatz um. Renovierte Fassaden, Schaufenster voller Herbstmode, Schuhe, Schmuck, Bücher… Neue, glänzende Autos in den Straßen, gut gekleidete Menschen, klare Luft… alles sah so blank geputzt aus, fast schon unecht. Als bewege man sich in einer Welt aus stark vergrößerten Modelleisenbahnhäuschen…
Ihr ganzes Leben war so blank poliert, fand Doro. Sie war gesund, sah ordentlich aus, hatte eine Businessgarderobe nach dem Vorbild der drei Mädels zusammen, hielt guten Unterricht, machte bestimmt bald Karriere, verdiente genug, besaß sogar ein ganz nettes kleines Depot, hatte eine recht hübsche kleine Wohnung, bekam am Donnerstag eine Schrankwand geliefert und hatte ein praktisch freies Wochenende vor sich. Konnte es denn besser sein?
So, und jetzt würde sie wieder nach Selling laufen und das Seidentuch waschen. Und endlich mal die Zeitung lesen. Oder bei Local One gucken, was die zu berichten hatten. Dass Leisenberg einen eigenen kleinen Lokalsender hatte, hatte sie anfangs eher lächerlich gefunden (dieses Kaff!), aber jetzt hatte sie sich daran gewöhnt. Gut, Local One klang, als gäbe es da eine ganze Senderfamilie, aber vielleicht kam ja wirklich noch etwas nach.
Sobald das Seidentuch über dem Badewannenrand hing und vor sich hin tropfte, warf Doro sich mit dem MorgenExpress und der Fernbedienung auf ihr Bettsofa. Viel war nicht los… sie überflog die Politik: Konnte man etwas für den Unterricht brauchen?
Unruhen im Jemen… konnte man den Arabischen Frühling mit der Französischen Revolution vergleichen? Und wusste man, ob etwas Besseres nachkam? Sie konnte das dem Kurs in der Q 12 vorlegen… diskutieren würden sie bestimmt!
Euro-Rettungsschirm… passte auch, die Idee Europa war ja im weitesten Sinne das Semesterthema.
Kultur… Kinoprogramm – nichts Interessantes. Die Ausstellung in Ludwigskron, vielleicht? Sonntags ein bisschen Bildung? Fotorealismus - sie wusste nicht so genau, was man darunter verstand, aber sie konnte ja nachher nachsehen. Es lebe Wikipedia!
Obwohl, im CineArt: Humphrey, wir lieben dich! Heute Casablanca, morgen Der Malteserfalke, am Montag Der tiefe Schlaf, am Dienstag Wir sind keine Engel. Immer um 18:30. Das konnte sie jeden Tag schaffen. Außer morgen, den Malteserfalken mochte sie nicht so sehr. Aber damit war doch schon für Unterhaltung gesorgt.
Lokalteil… Knatsch im Rathaus – wie immer. Das hatte sie schon mitgekriegt, der Bürgermeister, Dr. Richter, war im Stadtrat nicht unumstritten und wurde immer wieder angefeindet. Doro fand seine Politik eigentlich ganz gelungen, aber es wurde von verschiedenen Seiten dauernd gestänkert.
Im Moment ging es um die Frage, ob der Südring im Süden geschlossen werden sollte. Doro schnaubte beim Lesen: eher unwahrscheinlich! Im Süden, das war das Nobelviertel Leiching. Die waren auf eine Schnellstraße zwischen ihren Villen bestimmt sehr scharf! Und was würde das überhaupt bringen?
Sie angelte nach dem Stadtplan. Leisenberg war zwar eine Kleinstadt, aber so gut kannte sie sich hier auch noch nicht aus. Wo kam man denn hin, wenn man dieses etwa einen Kilometer lange Teilstück schloss?
Eigentlich nirgendwohin. Die Abzweigung nach Rothenwald lag da. Was war Rothenwald? Jedenfalls sah es eher klein aus, von Wald umringt. Lauter Blutbuchen, wahrscheinlich, wegen des Namens. Musste man da schneller hinkommen? Oder wohnten da die Promis?
Quatsch, die saßen ja wohl in Leiching. Oder in Waldstetten; soweit sie mitbekommen hatte, war das auch ziemlich schick.
Doof, so was. In Doro regte sich proletarischer Stolz. Da wohnte sie wirklich tausendmal lieber in Selling, wo die Leute normal waren, wo es alles um die Ecke gab und wo der Stadtring schon vorbei führte.
Sie blätterte um.
Ach ja, die Leiche auf den Bahngleisen. Mittlerweile identifiziert als ein Dominik Lechner, 43. Und ein Respekt einflößender Blutalkoholgehalt - na, dann war das Ganze ja wohl kein Wunder: Am Bahndamm entlang getorkelt, abgerutscht, auf die Gleise gefallen, vom Zug erfasst, aus die Maus.
Der Rest der Zeitung war eher uninteressant. Sie faltete sie zusammen, warf sie ins Altpapier und begann, ihre Schultasche auszuräumen. Dabei fand sie die HOT! von heute Morgen und ärgerte sich kurz über diese Verschwendung.
Na, nachschauen konnte sie ja: Was stand dort über die Bahndammleiche?
Ungefähr das gleiche, nur reißerischer formuliert. Übles Käseblatt. Sollte sie nicht mehr kaufen, nahm sie sich vor.
Montag, 15.10.2012
Ein schönes Wochenende hatte sie gehabt, zog sie auf dem Weg vom Parkplatz ins Lehrerzimmer Bilanz. All die schönen Filme, die Ausstellung über Fotorealismus, bei der sie sich einen tollen Druck für übers Bettsofa gekauft hatte, viele Arbeitsblätter, ein Korrekturplan und eine sorgfältige Sichtung der letzten Kisten. Wenn am Donnerstag die Schrankwand kam, musste sie sie bloß noch einräumen und alles war perfekt! Naja, und den Keller gescheit einrichten. Aber da taten es wirklich die Metallregale aus dem Baumarkt.
Als