Höllische Tage. Carlo Fehn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carlo Fehn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844236545
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zu!" Geuther wurde es nun zu bunt.

      "Dieses Kuvert lag mitten vor der Eingangstür, nicht zu übersehen und mit diesem schrecklichen Grammatikfehler. Wenn es damit kein Problem gibt, was wollen Sie dann eigentlich von mir?"

      Gute Frage, dachte sich Pytlik und stellte erst jetzt fest, dass der Gang zu Geuther einerseits planlos war, andererseits ihm aber bestätigte, dass er hinter all dem doch mehr vermutete, als er sich immer noch eingestehen wollte.

      "Und nun wäre ich Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie wieder an Ihre Arbeit gehen würden."

      Pytlik verschwand aus Geuthers Büro. Auf dem Weg nach unten kam ihm Schneider entgegen, ein Kollege, der an diesem Tag am Empfang Dienst tat.

      "Ach, servus Franz! Da, dess iss grad für dich abgehm worrn."

      Egon Schneider drückte Pytlik ein Kuvert in die Hand, das dem, das er bereits in der Schublade seines Schreibtisches liegen hatte, nicht nur ähnlich sah, sondern in fast jeder Hinsicht glich. "An den Hauptkommissar" war da zu lesen und Pytlik wunderte sich nur kurz, warum der Akkusativ diesmal richtig war.

      "Von wem hast du das?", fuhr er Schneider an, der im ersten Moment erschrocken zusammenzuckte, hatte er doch nicht mit einer derart heftigen Reaktion Pytliks gerechnet.

      "Von wem? Los, sag schon!"

      Pytlik wartete die Antwort Schneiders erst gar nicht ab und hörte beim Hinabrennen der letzten Stufen des Gebäudes nur, dass es ein kleiner Junge mit einem roten T-Shirt gewesen sei, der den Brief mit dem Hinweis "Dess is fürn Herrn Büddlich, soll ich bloß abgehm" an Schneider übergeben hatte.

      Pytlik riss die Eingangstür des Präsidiums auf, stürzte hinaus auf den Gehweg und blickte schnell nach rechts und links. Nichts! Verdammt, schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl gut trainiert, stand er leicht außer Atem und enttäuscht vor einem Fenster, aus dem mittlerweile zwei andere Kollegen mit fragenden Blicken auf den Ermittler schauten. Er winkte ab und signalisierte ihnen somit, dass alles in Ordnung war. Auch Schneider war inzwischen nach unten gekommen, schaute alibimäßig in alle Richtungen, so, als wäre ihm bewusst, dass er den Jungen hätte nach dem Umschlag fragen müssen.

      "Also, hätt’ ich gewusst, dass...", fing er an, doch Pytlik hob nur die Hand und versuchte, die Situation herunterzuspielen, jetzt, als ihm klar wurde, dass er langsam begann, alle aufzuscheuchen.

      "Nicht so schlimm. War nur so eine Idee von mir. Ich weiß, von wem das Kuvert ist. Ich wollte dem Jungen gleich wieder was mitgeben - für seinen Vater. Aber da fahre ich dann heute Nachmittag mal vorbei. Schon gut."

      Pytliks Lüge schien Schneider, der nicht alles tief hinterfragte und froh war, wenn er sich irgendwo heraushalten konnte, nicht unbedingt plausibel, doch mit einem gleichgültigen Schulterzucken drehte er sich um und verschwand.

      Pytlik hatte das Kuvert noch nicht wieder angesehen, er stand noch auf dem Bürgersteig. Er drückte den Umschlag leicht mit seinen Fingerspitzen und versuchte zu erfühlen, was darin sein könnte. Seine Vermutung wurde bestätigt, als er das zweimal gefaltete DIN-A4-Blatt aufklappte. Die Anweisung, die er dann las - wiederum in ausgeschnittenen und mit Kleber befestigten Buchstaben formuliert - machte ihm eine Gänsehaut.

      S I E S O L L T E N I H R E

      M U T T E R B E S U C H E N

      Pytlik war äußerst verwirrt, er spürte sogar eine deutliche Verunsicherung, die daraus resultierte, dass ihm jetzt ganz klar war, dass es sich hierbei nicht um einen Scherz handeln würde, sondern er es allem Anschein nach mit einem unbekannten Gegner zu tun hatte, der sich ihn zur Zielscheibe machte. Aber warum? Pytlik hatte sich auf die Treppe vor der Eingangstür gesetzt und starrte auf das Blatt Papier, als er - leicht in Gedanken versunken - eine tiefe und ruhige Stimme vernahm.

      "Morng, Franz! Franz?"

      Pytlik hatte die Begrüßung des Polizeihauptmeisters Justus Büttner erst gar nicht richtig wahrgenommen.

      "Franz, woss issn? Liest du dei Bost neuerdings dossn. Hossd Streit middm Cajo oder woss?"

      "Wie?"

      "No dess...!"

      Büttner deutete auf das Papier in Pytliks Hand und wollte die Frage natürlich als Scherz verstanden haben. Eigentlich war es dem bärenruhigen Leiter der Schutzpolizei nicht wichtig, warum der Hauptkommissar hier saß. Mag schon seinen Grund haben.

      "Ich mussd mei Enggerla nuch nei die Schul brenga, deswecher...", wollte Büttner seine Verspätung rechtfertigen, aber Pytlik war das im Moment egal.

      "Ja, ist schon gut."

      Nachdem Pytlik auf eine Tasse Kaffee und ein Gespräch über Sinn und Unsinn, Vor- und Nachteile einer Wohngemeinschaft von jungem Ehepaar und Schwiegereltern unter einem Dach bei Gundi Reif hängengeblieben war und dies als gelungene Ablenkung empfunden hatte, kam er gegen zehn Uhr in sein Büro zurück und versuchte, sich zu sammeln, herunterzufahren und nachzudenken.

      Zumindest war er schon wieder hellwach, denn die trotz der schwülen Luft unübersehbare Warmherzigkeit zwischen Cajo und Vanessa Zenk notierte er immer mehr. Er war froh, dass aktuell nichts wirklich Wichtiges auf dem Plan stand und Hermann in seiner Arbeit vielleicht negativ beeinflusst werden könnte. Er ließ die Beiden und vermutete sowieso, dass Dienstschluss für sie erst nach Dienstschluss war. Er gönnte seinem Assistenten diese Abwechslung, würde ihn aber die nächsten Tage darauf ansprechen. Frauen waren in seinem Leben dem Beruf untergeordnet, zu strebsam war der Enddreißiger. Pytliks Nachfolge war bereits geregelt.

      Der Hauptkommissar prüfte den Posteingang seiner E-Mails. Vielleicht hatte sich der Unbekannte ja auch hier schon gemeldet. Nichts. Dann nahm er seine Schlüssel, das Handy und das Kuvert, stand aus seinem Stuhl auf und schob ihn an die Schreibtischkante.

      "Ich bin dann mal eine Stunde weg. Ich hatte ganz den Arzttermin heute vergessen. Ich lass’ mich mal wieder durchchecken, kann ja nicht verkehrt sein bei dem Wetter. Ich mache danach gleich Mittagspause. Also, bis dann."

      Cajo Hermann und die Praktikantin schauten etwas überrascht, auch wenn des Assistenten zustimmendes "Ja, klar, ist okay" keineswegs so klang. Pytlik wusste, dass er den Beiden mit seiner Abwesenheit den Start ins Wochenende noch angenehmer machte.

      ***

      Er ging zu Fuß. Der Weg zum Friedhof - keine zweihundert Meter entfernt - wurde lang. Er dachte nach. Warum sollte er an das Grab seiner Mutter gehen? Was wusste dieser Unbekannte? Pytlik hatte schon länger beabsichtigt, die letzte Ruhestätte seiner Eltern wieder einmal zu besuchen. Jetzt, wo er dem versteckten Plätzchen im nordöstlichen Teil des Friedhofs näher kam, fragte er sich allerdings, wie das Grab mittlerweile wohl aussehen würde. Eine ehemalige Nachbarin seiner Eltern hatte sich nach dem Tod der Mutter 2001 angeboten, die Pflege zu übernehmen. Als Pytlik vor dem schlichten Marmorgrabstein stand und auf die Bepflanzung blickte, wunderte er sich allerdings, ob diese Nachbarin überhaupt noch lebte. Alles war vertrocknet, die letzten Blumen lagen wie Heu auf der Erde, die zementartig und mit Rissen durchzogen nach Feuchtigkeit schrie. Die Situation überforderte den Hauptkommissar, noch dazu, da an Nachbargräbern drei Frauen zugange waren, denen die ungepflegte Parzelle ein Dorn im Auge zu sein schien. Mit abschätzigen Blicken taten sie ihr Werk. Pytlik orientierte sich, sah in einiger Entfernung die Wasserstelle mit den Gießkannen und entschloss sich - auch wenn das jetzt nach übertriebenem Aktionismus aussehen mochte - den unschönen Anblick etwas zu mildern.

      Er hatte sich noch keine fünf Meter vom Grab entfernt, als er stutzte. Hatte er das gerade wirklich gesehen? Das konnte nicht wahr sein! Er hielt inne, drehte sich langsam um und blickte - Schritt für Schritt näherkommend und schließlich direkt vor dem Grabstein kniend - auf die Inschriften, die dort zu sehen waren.

      Neben dem unversehrten Namen seiner Mutter Trude war der seines Vaters Erich mit tiefen Kratzern, ähnlich einem Kreuz auf einem Lottoschein, durchgestrichen. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre - Pytlik musste schlucken, er spürte, wie sein Hals ganz trocken wurde -, waren rechts daneben Pytliks Vor- und Zuname, sein Geburtsdatum sowie mit einem Kreuz davor versehen "11.08.2003" eingraviert worden.

      Pytlik