"Der Alte schon wieder? Was will er denn diesmal?", fragte Cajo, der genau wusste, wie es zwischen Pytlik und Geuther stand.
"Ach!"
Pytlik winkte nur kurz ab und war schon im Begriff, den Inhalt des Kuverts herauszuziehen. Er stutzte. Noch bevor er das weiße Blatt Papier ganz herausgenommen hatte, fiel ihm etwas auf, dass er wenige Augenblicke später auch bestätigt bekam. Seine gute Laune wurde gedämpft und er wusste nicht so recht, was er mit den eher unsauber ausgeschnittenen und in gleichem Maße aufgeklebten Buchstaben anfangen sollte, die anscheinend aus einem Magazin entfernt worden waren.
J E T Z T G E H T S L O S
Was geht los, dachte sich Pytlik als er die bunten Letter noch einmal las und spontan meinte, es könne sich eventuell um einen Hinweis darauf handeln, dass er bei den Vorbereitungen für das Freischießen in diesem Jahr die Koordination mit den verschiedenen Organisationen an seine Kollegen verteilt hatte. Ja, genau, da hat sich jemand einfach einen Spaß gemacht und will mir mitteilen, dass es in 14 Tagen losgeht und ich das ja möglicherweise vergessen könnte, weil ich mich nun einmal in diesem Jahr ein bisschen abgeseilt habe. Ja, gut, lass’ den Jungs mal ihren Spaß! Die arbeiten ja auch hart. Basta!
"Ist was?", wollte Vanessa wissen. Sie hatte anscheinend bemerkt, dass der Hauptkommissar plötzlich sehr ruhig geworden war.
"Wie? Äh, was?" Pytlik war noch in Gedanken.
"Na, der Brief. Steht was Wichtiges drin? Sie scheinen ein bisschen verwirrt, wenn ich das so sagen darf."
"Welcher Brief?", ereiferte sich Cajo, der sich ignoriert fühlte, hatte er der Praktikantin doch gerade einige wichtige Zusammenhänge im letzten Mordfall erklärt.
"Ihr Psychologen meint wohl, hinter jedem Busch steht einer und pinkelt oder wie! Sie sollten lieber Cajo besser zuhören. Unser letzter Fall war interessant, da können Sie einiges lernen."
Pytliks kleine Maßregelung war übertrieben, aber er spürte, dass mit dem Brief doch etwas nicht zu stimmen schien. Welcher Kollege würde sich denn die Mühe machen, einen solch lapidaren Scherz mit derartigem Aufwand zu inszenieren? Die Frage wurde also konkret: Was geht los? Wo und wann geht es vor allem los? Jetzt? Wann jetzt? War es sinnvoll, seinem Assistenten - möglichst unter vier Augen - von der Sache zu erzählen? Pytlik überlegte. Die Spurensicherung in Coburg einzuschalten, um eventuell vorhandene Fingerabdrücke zu nehmen, schien ihm jetzt, da er beschlossen hatte, die Sache erst einmal als privat anzusehen, nicht klug. Noch dazu, da er zum Abteilungsleiter in Coburg kein besonders gutes Verhältnis pflegte. Gerhard Fuchs und er konnten sich nicht riechen.
Überhaupt kam er, als er dabei war, das Stück Papier wieder zusammenzufalten, ins Grübeln. Mit wem hatte er eigentlich ein gutes Verhältnis? Wer waren seine Freunde? Cajo kam ihm spontan in den Sinn. Ein wirklich guter Polizist, der seine Arbeit mehr als ordentlich erledigte und Pytlik als seinen Chef respektierte, ohne ein Schleimer zu sein. Wer noch? Heiner? Sein alter Schulfreund Heiner Baumann. Die wöchentlichen Treffen im Appel’s Max auf ein Schnitzel und das eine oder andere Bier - konnte das die Definition von Freundschaft sein? Da fiel ihm ein, dass weder er bei Heiner, noch dieser bei ihm jemals zuhause gewesen war, zumindest nicht, nachdem sich der Hauptkommissar von seiner Frau Marlies hatte scheiden lassen und sich die Doppelhaushälfte gekauft hatte. Komisch, dachte Pytlik.
Die innigste Verbindung hatte er wohl zu seinem Bruder Georg, vier Jahre jünger als Pytlik und seit langer Zeit in München am Rechtsmedizinischen Institut der Uni tätig. Ja, Georg war einfach geerdet, das typische Münchner "Mia san mia" spürte Pytlik bei jedem Besuch, wenn es wieder für ein langes Wochenende in die Berge zum Wandern ging, auf beruhigende Weise. Georgs Kinder waren groß und aus dem Haus, seine Frau Anna eine treue Seele und angenehme Schwägerin. Zu seinem jüngsten Bruder Johannes, Mathe- und Physiklehrer am Kronacher Kaspar-Zeuß-Gymnasium, hatte der Ermittler trotz der räumlichen Nähe kaum Kontakt. Zu sehr überwogen die Probleme des jüngsten der drei Pytlik-Brüder, als dass es eine Chance auf eine gute zwischenmenschliche Beziehung geben konnte. Johannes’ Frau Klara litt seit Jahren unter schweren Depressionen, die beiden verließen ihr Haus nur zu den notwendigsten Anlässen.
Als im nächsten Moment die Tür aufging und Gundi Reif sich in Pytliks Rücken am Aktenschrank bediente, dachte er auch an sie. Auch Gundi war eine Person, mit der er gut konnte und die ihrerseits seine Art mochte. Also, Pytlik, resümierte er nach einigen Minuten, so ein schlechter Kerl bist du doch eigentlich gar nicht. Er öffnete seine unterste Schublade, legte das Kuvert hinein und erhob sich von seinem Stuhl.
"Ich bin mal kurz beim Alten", raunzte er eher beiläufig in die Runde und sah in die Augen der Praktikantin, die ihn, wohl wegen seiner missbilligenden Äußerung einige Minuten vorher, argwöhnisch anschaute. Lachen war nicht gerade ihre Stärke, überlegte sich Pytlik, als sich ihre Blicke trafen und er das Büro verließ.
***
Nach einem kurzen Klopfen betrat der Hauptkommissar ohne weiteres Zögern das Zimmer von Alfons Geuther. Als Pytlik schon zwei Schritte im Büro des Kronacher Dienststellenleiters stand und zu dem wuchtigen Holzschreibtisch schaute, konnte er sich das Lachen gerade noch verkneifen. Geuther, der wohl nicht mit dem unerlaubten Hereinkommen gerechnet hatte, hatte gerade herzhaft von seiner Leberkässemmel abgebissen und wirkte mit der sorgfältig in den Hemdkragen gestopften Papierserviette und den vor Entsetzen weit aufgeschlagenen Augen wie ein unter Hochdruck stehendes Fass, das jeden Moment zu explodieren drohte.
"Oh, Entschuldigung!", blieb Pytlik unvermittelt stehen und machte Anstalten, noch einmal nach draußen zu gehen, was er allerdings nicht im Geringsten vorhatte.
"Soll ich gleich noch mal...?", fragte er mit Unschuldsmiene und machte eine entsprechende Handbewegung zur Tür hin.
"Was fällt Ihnen ein?", polterte Geuther wenig verständlich los, ohne Rücksicht auf seinen vollen Mund zu nehmen. Die groben, kaum zerkleinerten Fleischstücke purzelten reihenweise auf den jungfräulich unbeschriebenen Kalender, der als Schreibtischunterlage diente.
"Hat man Ihnen keinen Anstand beigebracht? Haben Sie vielleicht gehört, dass ich 'Ja, bitte!' gesagt hätte? Unmöglich! Wirklich! So ein Mist, schauen Sie sich das an!"
Pytlik tat, wie ihm befohlen und trat näher. Er beobachtete Geuther dabei, wie er seine Semmel in die Alufolie zurücklegte und die Leberkässtückchen mit einer hastig-zornigen Handbewegung in den Papiermüll fegte.
"Ich dachte, ein 'Ja, bitte!' gehört zu haben", rechtfertigte Pytlik mit versteinertem Gesicht sein Tun.
"So ein Mist! Was wollen Sie eigentlich?"
Geuther hatte sich noch immer nicht beruhigt. Als sein Schreibtisch sauber war, schob er sein Frühstück und die Kaffeetasse beiseite, stützte die Ellenbogen auf die Unterlage, verhakte seine Finger wie zum Gebet und blickte unfreundlich zu Pytlik hoch, der sich - wiederum ungebeten - in den Sessel vor Geuthers Schreibtisch setzte.
"Das Kuvert..."
"Welches Kuvert?", motzte Geuther, der anscheinend nicht gewillt war, sich nun noch mit dem Hauptkommissar zu unterhalten. Der wiederum ließ sich nicht beirren.
"Na, das Kuvert, das Sie mir heute morgen, als Sie selbstverständlich als Erster hier waren, freundlicherweise in mein Büro gebracht haben. Sie erinnern sich?"
Pytliks betonte Freundlichkeit ließ Geuther die Zornesröte ins Gesicht steigen. Der äußerst übergewichtige Mann kontrollierte jedoch seine Emotionen. Möglicherweise war die Aussicht auf eine schnelle Beendigung des Gesprächs und somit eine Fortsetzung seines Frühstücks ein gutes Argument, die Sache rasch zu beenden.
"Ach das. Was ist damit?"
"Lag das einfach so da?"
"Ja, das lag einfach so da! Wieso? Ist was damit?"
"Nein! Haben Sie jemanden gesehen, der es vielleicht dahin gelegt hat?"