"Keine Angst, ich beiße nicht. Ich dachte nur, es wäre vielleicht besser, vor der Arbeit was im Magen zu haben."
"Klar!" Pytlik hatte sich gefasst. "Dann bin ich morgen - ja wann denn? - so gegen neun bei Ihnen? Ist das okay?"
"Super, das freut mich! Mögen Sie Rührei mit Speck? Westfälische Art?"
Aha! Pytlik hatte während der paar kurzen Sätze schon gemerkt, dass diese Angelika Küppers keine von hier - also aus Franken oder Bayern - war. Zu exakt und dialektfrei sprach sie. Westfalen also. Oder war das westfälische Rührei nur eine ihrer Spezialitäten, ohne dass es mit ihrer Herkunft zu tun haben sollte? Egal, dachte er, ich werde es herausfinden.
"Ja, prima. Ich liebe Rührei mit Speck. Mal schauen, ob mich die westfälische Variante überraschen kann."
"Wir werden es sehen. Also dann: Vielen Dank schon mal und lassen Sie die Woche gut ausklingen! Schönen Tag noch!"
Angelika Küppers gab Pytlik die Hand und er schaute ein letztes Mal in ihr freudestrahlendes Gesicht, bevor er sich verabschiedete. Ende dreißig, schätzte er nun, also gut fünfzehn Jahre jünger als er. Was würde sie wohl beruflich machen? War sie womöglich tatsächlich nicht liiert? Kinder? Scheidung - wie bei ihm? Alles Fragen, die sich Pytlik stellte, als er, mit fantastischem Blick auf die Festung Rosenberg, Richtung Innenstadt radelte.
Er hatte in den letzten Tagen sogar auf seinen obligatorischen Besuch in Müller’s Backhaus verzichtet. Das nervige Wetter hatte ihm den Appetit auf seine geliebten Puddingbrezeln genommen. Beflügelt von der Begegnung mit Angelika Küppers schien nun aber auch dieses Problem behoben zu sein.
***
"No, Herr Kommissar! Ich hobb fei scho gedocht, mit Ihna wär woss bassierd. Mensch, wo wonn Sie denn die letzten Douch?"
Spätestens jetzt wurde Pytlik bewusst, wie sehr er in der kleinen Bäckereifiliale wohl schon zum Inventar gehörte. Nichtsdestotrotz war ihm die überschwänglich besorgte Begrüßung durch Maria Beierkuhnlein irgendwie peinlich, drehten sich doch alle Anwesenden - ähnlich verzweifelt wie der Polizist, mit permanenten Schweißtropfen im Gesicht kämpfend - zu ihm um und konnten sich die ihm zugedachte Aufmerksamkeit nicht erklären.
"Dess is fei heuer ein richdicher Mördersommer. Ich konn mich nier erinnern, dass ich so woss schonn erlebbd hobb. Ich bin fei richdich schlabb. Irgendwie gehds mer nier so gud."
Maria Beierkuhnlein hatte den Hauptkommissar wie immer, wenn sie kurz mit ihm ein Pläuschchen halten wollte, an die Seite der Theke gebeten, wo sie hinter der großen Kaffeemaschine ihre gesundheitlichen Bedenken preisgab.
"Irgendwie, ich waaß nedd..."
"Gehen Sie lieber zum Arzt, Frau Beierkuhnlein! Gerade in Ihrem Alter sollten Sie damit nicht zu fahrlässig umgehen. Sie haben genügend junge Kolleginnen. Die kommen auch mal ein paar Tage ohne Sie zurecht. Hören Sie auf mich!"
Maria Beierkuhnlein musterte Pytlik ungläubig. Wollte er ihr tatsächlich den Rat geben, zuhause zu bleiben?
"Ja, dess gedd nier! Hier muss Ordnung sei, die brauchen mich!"
Pytlik schmunzelte, nahm seine Tüte mit den geliebten Puddingbrezeln und hob den Zeigefinger.
"Denken Sie darüber nach, Frau Beierkuhnlein! Schönen Tag noch."
Als er die Bäckerei verlassen hatte, machte er sich kurz Sorgen um die alte Frau, die nun doch schon auf die Siebzig zusteuerte, aber ihre Arbeit einfach zu sehr mochte. Als er mit dem Fahrrad über den Herrenmühlsteg fuhr, hielt er in der Mitte der kleinen Holzbrücke an und blickte nach links und rechts in die Kronach. Der Fluss war zum Flüsschen verkommen, träge schob sich das Wasser an den freiliegenden Steinen vorbei.
Zwei Minuten später betrat Pytlik die Dienststelle am Kaulanger. Freitage mochte er grundsätzlich. Gerade in Zeiten, in denen keine Ermittlungen stattfanden, bedeutete dies einen frühen Dienstschluss. Die Vorbereitungen für das Schützenfest hatte er gut delegiert, so blieb ihm endlich einmal etwas Zeit für Ablage und allgemeine Bürotätigkeiten. Diese würde er heute relativ rasch am Nachmittag beenden, überlegte er sich. Vielleicht gab es ja zufällig noch etwas, bei dem er seiner neuen Nachbarin behilflich sein könnte. Seine Stimmung war nun, kurz bevor er das Büro im ersten Stock betrat, fast schon ein bisschen euphorisch. Er konnte nicht ahnen, dass ihm in den kommenden Tagen nicht nur der mörderische Sommer alles abverlangen würde.
***
"Guten Morgen!"
Pytlik hatte den Oberkörper nach vorne gebeugt und den Kopf nach rechts geneigt, so, als hätte er sich versteckt und würde sich nun wieder zeigen. Die betont begrüßende Handbewegung schien seiner Sekretärin etwas unangebracht. Adelgunde Reif schaute zumindest sehr verdutzt über ihren Schreibtisch zur Tür, erwiderte Pytliks Gruß aber ebenso freundlich, wenn auch mit einem unübersehbaren Runzeln der Stirn. Danach verschwand der Hauptkommissar im Zimmer gegenüber. Nachdem er auch dort ein gutgelauntes "Morgen allerseits" verkündet hatte, sah er sich wiederum mit zwei merklich überraschten Augenpaaren konfrontiert. Es war einfach nicht die Zeit für gute Laune. Die Menschen waren angeschlagen und die Wetteraussichten drückten umso mehr auf das Gemüt. Heiterkeit musste in diesen Tagen auf Unverständnis stoßen.
Pytliks Assistent, Cajo Hermann, saß am Schreibtisch vis-à-vis und deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Bildschirm, um der jungen Dame neben ihm etwas zu erklären. Er unterbrach seine Ausführungen und grummelte ein ebenso unmotiviertes wie gestresst wirkendes "Morgen, Franz!" zurück. Die schlaksige Frau schenkte dem Hauptkommissar ein kurzes "Hallo" und schaute dabei genau so prüfend, wie sie es die letzten zwei Wochen bereits getan hatte, seitdem sie hier war. Pytlik konnte sich nicht daran erinnern, schon jemals eine Praktikantin bei sich gehabt zu haben. Nun ja, eigentlich war sie auch mehr bei Cajo, der sich der Psychologiestudentin aus Bamberg vom ersten Tag an angenommen hatte. Pytlik war nicht entgangen, dass die Beiden ganz gut miteinander konnten. Sie sollte in erster Linie bei Vernehmungen und Recherchen mit einbezogen werden. Da diesbezüglich aber gerade nicht viel vorlag, erklärte Hermann ihr jede Menge Inhaltliches zum polizeilichen Alltag. Vanessa Zenk schien sehr interessiert und unansehnlich war sie auch nicht. Also hatte Pytlik im Nachhinein auch ein ruhiges Gewissen, dass er seine Zustimmung gegeben hatte, als sein Chef ihm den Vorschlag unterbreitet hatte. Es war auch nicht wirklich ein Vorschlag. Alfons Geuther und Pytlik waren sich in zunehmendem Maße immer unsympathischer. Ob es daran lag, dass beide von den jeweiligen Kompetenzen des Anderen eine eher unterschiedliche Meinung hatten, war nicht klar. Pytlik, der Ermittler, sah in Geuther, den er äußerlich immer irgendwie für den Vater des bayerischen Schauspielers Ottfried Fischer hielt, nur eine unbedeutende Lachnummer, die für den Praxisalltag schon länger nicht mehr geeignet war. Dass Beide nur wenige Monate zuvor im Kreis des gesamten Teams lautstark aneinander geraten waren, stellte den bisherigen Höhepunkt der Beziehung dar.
Pytlik hatte seinen PC hochgefahren und wollte sich trotz der Schwüle und der stickigen Luft im Büro gerade eine Tasse Kaffee holen, als ihm ein braunes, DIN A5-formatiges Kuvert links neben seiner Tastatur auffiel. Dass auch noch "An dem Hauptkommissar" darauf stand, machte ihn aus zweierlei Gründen neugierig. Erstens wunderte es ihn, dass er einen Brief - allem Anschein nach auch noch ohne Absender - nicht über die normale Postverteilung bekommen hatte, sondern jemand persönlich den Umschlag bei ihm deponiert haben musste. Außerdem fiel ihm sofort der falsche Akkusativ auf. Sein Telefon klingelte, Pytlik sah im Display Geuthers Nummer und überlegte kurz, ob er überhaupt abnehmen wollte. Er tat es und schnappte sich im gleichen Moment den Brieföffner von Cajos Schreibtisch gegenüber.
Als er langsam in den kleinen Schlitz an der kurzen Seite des Kuverts fuhr, hörte er die monotone und wenig erfreuliche Stimme seines Vorgesetzten. Er hätte ihm einen Umschlag auf den Schreibtisch gelegt, ob er das schon gesehen hätte. Der hätte vor dem Eingang gelegen, als er heute morgen gekommen war. Pytlik wisse ja sicherlich,