•) Ein auf Singlereisen spezialisierter Katalog konnte sogar mit einer vielversprechenden, romantischen Prophezeiung aufwarten, wonach man einen Wunsch erfüllt bekommen oder, wenn nicht, es zumindest Glück bringen soll, die Felsnadeln mit beiden Händen zugleich zu berühren und dabei an etwas Schönes zu denken.
Gewagtes Versprechen und die passende Entschuldigung geschickt in einem Satz kombiniert – fiel dir spontan dazu ein.
»Pah!« musstest du laut ausrufen, als du dich zwischen die Felsen gestellt hattest. Sie sahen aus der Nähe weit weniger glatt und elegant aus, verströmten nicht den Flair des Mystischen. Sie waren stark verwittert, rissig, von Flechten überwachsen und an einigen Stellen mit Moos bedeckt. »Von wegen beide Felsnadeln berühren, so ein Unsinn!« war dann dein nächster, laut ausgesprochener Gedanke.
Die Felsen sind mehr als zweieinhalb Meter voneinander entfernt.
Das geht sich ja nichteinmal für einen Orang-Utan aus!
Wie groß ist der größte Mensch der Welt – ob es sich für ihn wohl ausginge? Du musstest schmunzeln beim Gedanken: Welch' clever formulierte Urlaubsprospektwahrheit.
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Beim Abendessen gab es eine etwas längere Wartezeit zwischen dem Hauptgang (Faschierte Laibchen mit Kartoffelpüree und grünem Salat) und der Nachspeise. Frau Pauschitz, die Wirtin, hatte sich im Speisesaal laut für die Verzögerung entschuldigt – es sei ein kleines Missgeschick in der Küche passiert. Dafür gab es ein weiteres Getränk gratis und sie ging, gastfreundliche Herzlichkeit ausstrahlend, von Tisch zu Tisch und sprach mit den Gästen. Es waren aber nur fünf der zwanzig Tische besetzt – wie an jedem Abend bisher.
Nach dem wie immer wenig gesprächigen und mehr mit sich selbst beschäftigten Vital-Bio-Opa am Nebentisch, den sie immer zuckersüß mit "mein lieber, guter Herr Kreiner" anredete, und der bei jeder Mahlzeit eine vegetarische Extrawurst bekam, wandte sich die Wirtin dir zu. Die Augen nach oben rollend, begrüßte sie dich freundlich und begann einen typischen Smalltalk über das sonnige Septemberwetter, die Berge und über verschiedene Anlässe, warum Menschen in einem Singlehotel Urlaub machen.
Es roch verbrannt.
Und der Vital-Bio-Opa machte nicht den Eindruck eines lieben guten Herrn.
Er machte eher einen autistischen Eindruck, so wie er muffig vor sich hin murmelte und stundenlang kleine Zettelchen auf seinem Tisch in immer neue Anordnungen schob. Kein Gespräch, kein Kotakt zu anderen Gästen. An allen Abenden bisher war es das selbe Spiel.
Aber, um ehrlich zu sein, das junge Paar – was tut ein Paar im Single-Hotel? – das immer tuschelnd die Köpfe zusammensteckt, nachdem sie beide angestrengt und durchaus auffällig die anderen Gäste beobachtet hatten, war dir um nichts sympathischer. Die sollen doch lieber in der Stoßzeit U-Bahn fahren! Der Gedanke gefiel dir und du nahmst dir vor, ihnen deine Meinung noch zu sagen.
Als du die Wirtin geradeheraus nach einem Einheimischen fragtest und dessen Aussehen kurz beschrieben hattest, huschte ein Schatten über ihr Gesicht. »Was könnte der gewollt haben?« fragt sie ohne dich dabei anzusehen. Du hast den Verdacht, dass sie viel eher darüber besorgt war, von einer erzählenswerten Geschichte nicht früher erfahren zu haben, als darüber, jemanden nicht wiederzuerkennen. »Nein, es gibt niemanden mit diesem Namen oder zu dieser Beschreibung passend, der hier im Ort oder in der Nachbarschaft wohnt« schloss sie und ließ dabei die flache Hand mit Schwung auf den Tisch fallen. Es war wirklich alles, was sie dazu sagen wollte.
Auf deine Frage nach dem Weg zur Robbenwand konnte sie nicht sofort Auskunft geben. »Wohin? Hier gibt es keine Robben. Das nächste Meer ist ...«
»Ich denke an eine Felswand, eine die vielleicht Robenwond oder so ähnlich heißt?« Du versuchtest, die Sprache des Fremden möglichst gut nachzuahmen, denn jetzt wolltest du es schon genau wissen.
Eben noch zog sie ihre Augenbrauen zusammen, schon strahlte sie wieder Erheiterung aus, nicht nur ihr Mund, auch ihre Augen leuchteten. Berufslustig, war der Begriff, der dir spontan dazu einfiel.
»Ach! Sie meinen sicher die Rabenwand! Das einstige Kletterparadies?« Aber dann wurde sie wieder ernst und erzählte, dass es dort inzwischen zu gefährlich zum Klettern sei, weil der Fels brüchig wäre und keinen sicheren Halt böte. Es hätte in der jüngeren Vergangenheit mehrere schwere Unfälle gegeben, sogar Tote waren zu beklagen. Wie ein Wasserfall sprudelte es aus ihr heraus. Sie empfahl, für nette bis anspruchsvolle Klettertouren doch besser den Wetterstein einzuplanen, wo die Schutzhütte am Fuß der Felswand bequem per Sessellift erreichbar wäre und wo es auch mehrere gut gesicherte und gekennzeichnete Klettersteige gäbe.
Sie sah dir offensichtlich an, dass sich deine Begeisterung für den Wetterstein in Grenzen hielt. »Außerdem ist da sicher etwas mit dem Ticketpreis zu machen«, meinte sie dann noch schnell, zumal der Liftbetreiber ja ihr Schwippschwager sei.
Schon hattest du Luft geholt, um zu erklären, warum du dich ausgerechnet für die Rabenwand interessierst, da stand sie, nach einem kurzen Blick zur Küchentür, mit einem Ruck auf, murmelte ein oberflächlich klingendes »Ich glaub', es geht weiter – ich erzähle Ihnen später gerne mehr über unsere schönsten Ausflugsziele« und entschwand in Richtung Küche.
Das Orangengelee war sensationell, schmeckte unerwartet deutlich nach Karamel, und Minze war keine dabei. Egal. Die Wirtin kam jedenfalls später nicht mehr an deinen Tisch.
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Das Fernsehprogramm lockte mit der Aussicht auf einen Dokumentarfilm über die Entstehung des Lebens auf der Erde, was zumindest interessant klang. Aber bis die Sendung begann, drehten sich deine Gedanken längst um die Erlebnisse des Tages.
Deine Inventur der Situation war wie folgt:
Die klassische Geschichte, immer dann gut, wenn einem nichts Besseres einfällt: hilfloses Waldmännchen, möglichst kauzig aussehend und natürlich rundum unbekannt wird aus der Notlage gerettet und bedankt sich indem es den Ort eines Schatzes – eines sagenhaften Goldschatzes preisgibt. Die übliche Aufforderung: Such die Höhle, geh rein, hau alles kurz und klein, nimm den Schatz (manchmal auch: rette die Prinzessin) und geh wieder. So ein Blödsinn, das gibt's doch nicht im wirklichen Leben! Das ist fettig triefender Kitsch pur. Das kann ich doch nicht ernstnehmen!
Gerade als der Sprecher im Fernsehen mit betont gelangweilter Stimme verkündete, dass sich die ersten Zellen vor fast 4 Milliarden Jahren in den Hohlräumen von Eisen-Schwefel-Mineralen gebildet haben – die Graphik war schön bunt und waberte etwas, wohl um bewegtes Wasser zu veranschaulichen – da tauchte die Spiegelung eines Gesichts auf der Fläche auf. Es war nicht dein Gesicht. Du erkanntest es sofort und musstest an den Dornenbusch denken.
Oh, Schreck! Das Waldmännchen.
Du hattest dich mit einem Ruck umgedreht, in der Erwartung, dass dieser "Wülta-Hülta" jetzt hinter dir steht ... aber da war niemand!
Spinn' ich, oder was? – schoss es dir durch den Kopf.
Aber die Spiegelung des Gesichts war noch immer da, über einem nach wie vor waberndem Fernsehbild, das aber jetzt die frühe Erde von einem imaginären Beobachtungspunkt aus dem Weltraum betrachtet zeigte und wo das Wabern irgendwie nicht angebracht erschien.
Das Gesicht begann sich zu bewegen und plötzlich begann der Fernsehsprecher zu Nuscheln, sprach mit bekannter Stimme, aber fast unverständlich weiter: »Du spinnst ned und i moch kan Schmäh. Geh doch söwa nochschau. Nimm wos zan Wegrama fia di Stana mid, da Eigong is faschit« Und schon schwammen da irgendwelche grünen Flecken über den Bildschirm, die dich stark an die Ölpatzen in einer Lavalampe erinnerten – nicht wabernd.
Die bekannte Stimme des Fernsehsprechers ist für dich gleichbedeutend mit "auf der Stelle einschlafen", doch jetzt warst du hellwach. Das Gesicht war weg und alles was blieb, waren wirre Gedanken über Drogen im Essen (Drogen mit Karamelgeschmack?) und über bislang