Sollte ich nicht doch besser morgen wiederkommen? Der Gedanke ist plötzlich da und kommt wie gerufen. Er erscheint dir wie ein rettender Strohhalm, birgt er doch die Hoffnung in sich, einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation gefunden zu haben. Nur wenige Sekunden später spürst du in ihm den Geschmack des Versagens, die blasse Rechtfertigung dafür, eine einmalige Chance versäumt zu haben.
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Dabei hat alles so gut angefangen.
Du wolltest Urlaub machen!
Allein!
Hier in den Bergen wolltest du Abstand zum Beruf, zur Familie gewinnen, wolltest dem Alltag entfliehen. Du hast lange und sorgfältig geplant, hast dir die zweite Septemberwoche dafür ausgesucht, weil da die Hauptsaison schon vorüber ist und an den meisten Urlaubsorten wieder Ruhe einkehrt.
Ruhe, das ist genau das, was ich am allermeisten brauche.
Wandern, Schwimmen und vielleicht Radfahren waren als Tagesaktivitäten geplant. Das Abendessen genießen und dann mit einem guten Buch ins Bett oder bei einem actiongeladenen Martial-Arts-Fantasy-Film (Hirntot-Haudrauf ist deine Bezeichnung dafür) einschlafen. So sollten die Abende ablaufen.
Hotel Pauschitz, das Single-Hotel in Steinbach, am A... der Welt hattest du dir ausgesucht. Feiner Plan, ausgezeichnet! Endlich ungestört, endlich Zeit für dich selbst. Eine Woche lang nicht funktionieren müssen.
Am ersten Tag warst du noch auf 180, konntest es kaum fassen, dass du dir selbst deinen Wunsch nach Entschleunigung erfüllt, dass du dich einmal hartnäckig durchgesetzt hattest. Schließlich hast du vereinbart, in dieser Woche weder täglich anzurufen noch jeden Tag angerufen zu werden.
Nun hast du schon drei Tage in Langsamkeit verbracht und beginnst zu genießen. Endlich lässt du es zu, dass die Ruhe und Erhabenheit der Wald- und Felslandschaft rundum dich durchdringt.
Es wird alles gut.
Nichts wird dich aus der Bahn werfen.
Wenn da nicht gestern diese Begegnung gewesen wäre.
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Da war gestern dieser Einheimische. War es ein Einheimischer? Na, ja, er sah jedenfalls so aus. Kautzig war sein Erscheinungsbild, mit den langen grauen Haaren, mit dem karierten Holzhackerhemd, mit der Krachledernen und mit den dicken Bergschuhen. Etwas kleinwüchsig war er außerdem. Über die Menschen, die in den engen Gebirgstälern leben, hört und liest man ja so einiges.
Dieser Mann jedenfalls, der etwas nach Pfefferminze und nach Kerzenwachs roch, hatte sich mit seiner Kleidung und auch mit seinen Haaren hoffnungslos in einem großen, wilden Rosenbusch verfangen. Er hat nicht um Hilfe gerufen, aber du hattest ihn schon von Weitem schimpfen und fluchen gehört, als du auf deiner Tageswanderung, am Weg zum Ritterausguck, dort vorbeigekommen warst.
Ja, sicher hätte er sich auch selber befreien können. Er hätte aber wahrscheinlich Haare lassen müssen und sowohl seine speckige Kniehose als auch sein schmuddeliges Hemd hätten weitaus größeren Schaden genommen. Dann erst hast du bemerkt, dass eine der Dornenranken quer über seinem Gesicht festsaß und ein Dorn sich in seinem linken Augenlid verhakt hatte.
»Oh, oh! Keine wilden Bewegungen jetzt, sonst gibt's ein Blutbad!« hast du gerufen.
So hast du zuerst beruhigend auf ihn eingeredet und ihn dann, Zentimeter für Zentimeter, aus den Dornen befreit. Kaum hattest du eine Ranke weggebeogen, verfing sich eine andere wieder neu im Gewand. Du erinnerst dich, die ganze Zeit über auf den Mann eingeredet zu haben, wie auf ein krankes Pferd, obwohl er sich ohnehin recht ruhig verhalten hatte.
Zumindest hatte er nichts geredet.
Oder zumindest war es dir nicht aufgefallen.
Eine viertel Stunde später, so gern hättest du ein Messer oder ein anderes, brauchbares Werkzeug dabei gehabt, zeugten nur noch eine einzelne Strähne seiner grauen Haare und zwei kleine, karierte, ausgefranste Stoffstücke vom Drama in den Dornen. Der Fremde, der sich nuschelnd als "Wülta" oder "Hülter" oder so ähnlich vorstellte, hat sich dann eher kurz und muffig bedankt. Jedenfalls kam er dir insgesamt nicht so recht freundlich vor.
Dir war klar, du gehst nie wieder ohne Taschenmesser aus dem Haus.
»Aber, keine Ursache!« hast du betont freundlich gesagt – worauf keine Reaktion des kleinen Mannes folgte. Als du dann bemerkt hattest, dass sich sein linkes Augenlid bedenklich blaurot verfärbte und er außerdem doch recht viele Kratzer abbekommen hatte, aus denen Blut sickerte, hast du noch hinzugefügt »Sie sollten das desinfizieren und rasch verbinden!« dabei hast du mit dem Finger auf sein linkes Auge gezeigt. »Am besten, Sie gehen gleich direkt zum Arzt.«
Du warst dir sicher, dass er Schmerzen haben musste, so angestrengt und so traurig, wie er schaute.
Wieder sprach der Fremde murmelnd und unverständlich. Dennoch hattest du das Gefühl, er würde dir zustimmen. Zumindest klang es so. Du überlegtest, ob es zur Verständigung mit den Einheimischen wohl einen Sprachführer geben könnte.
Gerade als dir einfiel, dass du ja ein Notfalltäschchen mit dabei hattest und in deinem Rucksack zu Kramen begannst, hob der Fremde die Hand und bedeutete dir, noch etwas sagen zu wollen. Es klang gezwungen und dringlich, etwas anders als zuvor, fast verständlich: »Waun du ah nochm Schotz suachst, daun gäh net doda weida, sondan den Hoiwög nauf bisch za Robenwond und daun rechts weida bisch za Einhorngrottna. De ondern haum olle an da foischn Stöla gsuacht. Owa es is eh nua a Gschicht, an dera net fü draun is, homs donn olle gsogt, de Besawissa.«
Du hattest das Täschchen eben gefunden. Den Worten des kleinen Mannes zu folgen war so anstrengend, dass du in der Bewegung innegehalten hattest.
»Ein Schotz? Ein ... was für ein Schatz?« hast du spontan ausgerufen. Das war jetzt nicht das, womit du gerechnet hattest. Am Abend die Füße in der Wanne ausstrecken und das Entspannungs-Duftbad genießen, das war dein Plan, der dir vorhin noch in den Sinn kam, während du über den mit sehr grobem Kies geschotterten Weg mühsam heraufgestolpert warst.
Aber der Fremde reagierte nicht auf deine Fragen, sagte bloß noch »Seawas« und verschwand mit flottem Schritt seitlich im Unterholz, nur knapp am Rosenstrauch vorbei, an dem er sich zuvor gefangen hatte.
Nein, nicht wahr – war dein erster Gedanke.
»Pff! Nein, nicht wahr« sprachst du laut aus. Aber da war der Fremde auch schon außer Sichtweite. Deinem rasch gerufenen »Halt! So bleiben Sie doch!« folgte keine Reaktion. Und als du eben auf eine Antwort hoffend kurz gelauscht hattest, fiel dir auf, dass du auch keine Schritte und kein Rascheln im Gebüsch hören konntest.
»Auf Wiedersehen« brachtest du noch flüsternd hervor. Mit einem Seufzer entließt du die angehaltene Luft, denn es gab nichts weiter zu sagen. Dein praktisches Notfalltäschchen hast du in den Rucksack zurückfallen lassen.
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Der Ritterausguck ist ein netter, freundlicher Ort – besonders bei dieser herrlichen Fernsicht. Er besteht aus einem kleinen, flachen Plateau zwischen zwei fast regelmäßig geformten Felsnadeln, die gut drei Meter hoch aufragen und sitzt auf einer Erhebung die auf drei Seiten steil abfällt. Hier endet der Wanderweg, nur noch Klettersteige und Kletterrouten führen weiter hinauf zum Gipfel. Der Blick hinab auf den Fluss und auf die umliegende Berglandschaft hatte dir sehr gefallen. Außerdem ranken sich einige Mythen um diese doch recht eigentümliche Felsformation – wenn man den diversen Urlaubsprospekten und Wanderführern des örtlichen Tourismusvereins Glauben schenken will.
Und eine davon erzählte von einem Schatz, glaubtest du dich zu erinnern. Das Grübeln über die seltsame Begegnung hatte dich den gesamten Weg entlang beschäftigt. Je länger du darüber nachdachtest, desto unsicherer wurdest du. An zwei Texte kannst du dich gut erinnern, waren sie doch für dich der Anlass, hierher zu kommen:
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