Sin-Aschar schaute hinunter auf das Volk. Als er die Menge mit erhobenen Händen grüßte, gingen alle auf Knie, bis er seine Arme senkte. Dann drehte er sich um und wandte wie die Hohepriester sein Gesicht dem Hochtempel zu.
Haran hatte in der Menge eine junge Frau bemerkt, die er schon öfter gesehen hatte und die ihn mit ihrer Schönheit bezauberte. Beinahe vergaß er, warum er hier vor dem Tempel stand, als er sah, dass die junge Frau mit ihrer Familie, nachdem auch sie ihre Opfergaben abgegeben hatten, in seine Nähe kam. Jetzt stand sie neben ihm. Sein Herz klopfte nun noch heftiger, als es schon wegen des bevorstehenden Ereignisses tat. Er glaubte es zu hören, so stark war seine Erregung. Wenn sie mit ihren Leuten nur nicht weiterging, wünschte er sich.
Haran schaute sie an, und als sie bemerkte, dass sein Blick auf ihr ruhte, lächelte sie. Er grüßte sie und war glücklich, als er sah, dass sie ihren Vater am Arm fasste und ihn zurückhielt, als er weitergehen wollte. Nun stand sie ganz nahe bei ihm. Die Götter hatten seinen Wunsch erfüllt. Er tat einen Schritt zur Seite und flüsterte ihr zu:
»Ich hab dich schon oft gesehen. Du bist schön. Wie heißt du?«
»Mein Name ist Lea«, antwortete sie und errötete.
»Ich heiße Haran.«
»Ein schöner Name«, erwiderte Lea.
Sie hatte eine weiche, fast singende Stimme. Hätte er sich nicht schon wegen ihrer schönen Gestalt und ihres hübschen Gesichts in sie verliebt, so würde ganz sicher diese süße, verführerische Stimme ihn dazu bewegen.
Haran und Leas Angehörige standen stumm und starrten auf den Tempel und bemerkten nicht, dass die beiden einen Schritt zurückgewichen waren und andere Neugierige und Fromme, die zum Gott beten wollten, sich zwischen sie und ihre Eltern und Geschwister gedrängt hatten.
Niemand wagte laut zu reden. Die Stimmen der vielen tausend Menschen vermischten sich zu einem Summen und Brummen, das wie ein andauerndes fernes Donnergrollen hinauf zu den Priestern auf den Zinnen drang.
Endlich gab ein Priester auf der obersten Terrasse ein Zeichen. Daraufhin ertönten wieder dumpfe Trommelschläge von der kleinen vorgelagerten Terrasse herab. Die Menge wurde still. Auch Haran schwieg. Er hatte bereits herausbekommen, wo Lea wohnte und wer ihre Eltern waren. Und mit Befriedigung hatte er festgestellt, dass Lea selbst nicht abgeneigt schien, ihn näher kennen zu lernen.
Die Trommelklänge schwollen an und wurden wieder leiser. Eine unheimliche Beklemmung bemächtigte sich der Menschen.
Plötzlich verstummten die Trommeln.
Die Priester auf allen drei Terrassen, dicht nebeneinanderstehend, erhoben die Hände betend zum Himmel. Das Volk sah nur ihre Rücken. Auch in der Menge begannen nun einige, dann immer mehr, am Ende alle, ihre Hände zu erheben. Ein Murmeln ging durch die Menge, das wie das Brausen des Meeres anschwoll und wieder verebbte und wieder anschwoll, unaufhörlich, bis irgendwo in der Menge der Ruf erschallte: »Die Sonne verschwindet.«
Alle Blicke waren zum Himmel gerichtet. Doch wegen des blendenden Lichts konnte niemand genau sehen, was vor sich ging. Einige hielten sich Tücher vor die Augen und konnten so erkennen, dass ein Schatten über die Sonnenscheibe heraufzog.
Es war auf einmal totenstill geworden in der Menge. Es war, als breche bereits um diese Mittagsstunde die Abenddämmerung herein. Selbst die Vögel, die gerade noch herumgeflattert waren, hatten sich auf die Äste der Bäume, die den weiten Platz umgaben, gesetzt, versteckten sich zwischen den Blättern und hörten auf mit ihrem sonst so fröhlichen Gesang. Als der letzte kleine Strahl der Sonne verschwunden war, wurde es düster. Es war, als hielte die ganze Welt den Atem an.
Alle Blicke waren nun zum Himmel gerichtet, dorthin, wo gerade noch der letzte Strahl der Sonne geleuchtet hatte. Jetzt aber war nichts mehr zu sehen. Die Menschen schwiegen, das leiseste Flüstern war verstummt.
Haran hatte unwillkürlich nach Leas schmaler Hand gegriffen und hielt sie fest. Lea hatte nicht versucht, sie zurückzuziehen.
Auch Sarai klammerte sich an ihre Mutter. Selbst Terach hatte seine Arme um Abrams und Nahors Schultern gelegt und zog die beiden Söhne an sich heran.
Doch plötzlich leuchtete wieder ein Strahl auf.
Die lautlose Stille wurde von dem Gezwitscher der Vögel unterbrochen, die als Erste von dem Fortgang des Lebens Kunde gaben. Klang ihr Gesang so laut, weil sie das Versäumte nachzuholen schienen, oder war es, weil die Menschen ihren Gesang noch nie so bewusst und in dieser jubilierenden Fröhlichkeit wahrgenommen hatten wie in diesem Augenblick?
Und da ging auch durch die Menge ein hörbares Aufatmen, das allmählich in Jubel überging. Und immer größer und stärker wurde das Licht, so dass man nicht mehr hinschauen konnte, ohne geblendet zu werden.
Und dann war es wieder so hell wie zuvor, und die Welt war nicht untergegangen. Die Stadt Ur und ihre Bewohner lebten weiter. Wieder reckten sich Hände zum Himmel, diesmal zum Dankgebet für Schamasch, den Sonnengott, der gestorben und wiedergeboren war, und für Nanna, der seinen Sohn nicht vom Firmament hinab in die Unterwelt gestoßen hatte.
Und nun ertönten wieder die Trommeln, nicht mehr so dumpf wie vorher. Unter ihrem hellen Klang schritt Sin-Aschar die Treppen herab. Bei der untersten Treppe schlossen sich die Trommler an und stiegen fünf Stufen hinter ihm hinunter. Der Statthalter und seine Beamten gingen gemessenen Schrittes durch die spalierstehenden Soldaten über den Platz. Auf einmal ertönte der Ruf:
»Lang lebe Sin-Aschar!«, und noch einmal: »Lang lebe Sin-Aschar!«
Zögernd stimmte das Volk mit ein.
Keiner wollte den Eindruck erwecken, ein Gegner des Vizekönigs zu sein. Man wusste ja nicht, ob der unbekannte Nachbar nicht ein Spitzel war.
Als sich das Tor der Burg hinter dem Statthalter des Königs verschloss und die Trommeln verstummt waren, verlief sich allmählich die Menge.
Manche standen noch in kleinen Gruppen beisammen. Was würde nun geschehen? War wirklich alles vorbei und wieder so wie zuvor, oder war dies der Anfang einer neuen, schrecklichen Zeit?
Haran und Lea hatten sich losgelassen. Freudig stellte Haran fest, dass sein Vater Terach mit Leas Vater redete. Die beiden schienen sich zu kennen. Es stellte sich heraus, dass sie schon geschäftlich miteinander zu tun gehabt hatten. Sanherib, so hieß Leas Vater, hatte bei jeder Geburt seiner vier Kinder bei Terach eine kleine Götterstatue in Auftrag gegeben, die als persönlicher Gott das kleine Kind schützen und ihm später als Mittler zu Marduk, Schamasch oder den anderen höheren Gottheiten dienen sollte.
Eine kurze Strecke gingen die beiden Familien nebeneinander her, bis sich ihre Wege trennten. Haran hob nur seine Hand zum Abschied und setzte ein Gesicht auf, das seinen ganzen Trennungsschmerz, aber zugleich auch seine Hoffnung auf ein Wiedersehen zum Ausdruck bringen sollte. Und Lea warf ihm einen verliebten Blick zu, der ihm alles Glück verhieß.
Noch am Abend desselben Tages nahm Haran seinen Vater beiseite.
»Ich möchte mit dir etwas besprechen«, sagte er geheimnisvoll. Seine Brüder sollten nichts davon hören.
Sie gingen hinüber in die Werkstatt.
Haran wusste nicht, wie er beginnen sollte.
»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Terach seinen Sohn, als er sah, dass dieser sich herumdrückte und keine Worte fand.
»Ich möchte mir eine Frau nehmen«, begann Haran. »Ich bin nun alt genug.«
»Aber deine beiden Brüder sind älter als du und haben noch keine Frau«, erwiderte Terach.
»Das ist ihre eigene Schuld«, sagte Haran. »Sie kennen ja kaum jemand. Wenn sie mehr in die Stadt gehen würden, hätten sie auch mehr Gelegenheit, eine Frau zu finden.«
»Hast