Er ging langsam auf die Stadt zu wie einer, der eine Todesnachricht überbringen muss.
Wie das große geöffnete Maul eines riesigen Tieres, das ihn zu verschlingen drohte, sah er vor sich das Tor, auf das er zuschritt. Wie ein aus dem Gefängnis Entflohener, der ein wenig die Freiheit geschnuppert hat und dann von den Häschern in seine enge Zelle zurückgeführt wird, fühlte er sich.
Die Wache ließ ihn passieren. Fast wie ein Blinder ging er durch die Menge der Leute hindurch, die Rufe der Händler drangen nicht zu ihm durch, die Handwerker, die unter ihren Türen saßen und ihn grüßten, sah er nicht.
»Was ist mit Terach los?«, dachten jene, die ihn kannten.
Er bog nicht in die Gasse ein, die zu seinem Haus führte. Er ging weiter bis zum Straßenkreuz, ging in eine Schänke und ließ sich einen kleinen Krug Bier bringen. Die Wanderung an der Sonne hatte ihn durstig gemacht. Der trübe Gerstensaft rann kühlend seine Kehle hinunter. Doch als er den bitteren Satz des Bieres, der auf dem Grund des Kruges schwamm, in sich hineinschlürfte, ekelte es ihn, und er spuckte ihn auf den Boden.
Endlich raffte er sich auf, zahlte mit einem Silberplättchen, nahm seinen Stecken und verließ die Schänke.
Vor seinem Haus holte er noch einmal tief Atem, bevor er die Tür zur Werkstatt öffnete und eintrat. Er wollte jetzt nicht in die Wohnung zu Sia gehen. Doch arbeiten mochte er auch nicht. Er saß nur auf seinem Schemel und drehte ein Schnitzmesser in seiner Hand herum.
Seine Söhne hatten, als sie am Morgen in die Werkstatt gegangen waren und ihren Vater nicht bei der Arbeit antrafen, geahnt, was er vorhatte. Sie hatten sich an ihre Plätze gesetzt und zu arbeiten begonnen. Haran hatte noch eine Weile über das Vorhaben seines Vaters gemotzt. Als seine Brüder aber nicht darauf eingegangen waren, verstummte er bald. Bis zum Mittag hatten sie stumm ihre Arbeit verrichtet, bis die Mutter zum Essen rief. Sia war erstaunt, dass Terach nicht da war. Im Wohnraum warteten sie auf ihn.
Endlich hörten sie die Tür zur Werkstatt gehen. Abram stand auf, um ihn zum Essen zu holen.
Als er in die Werkstatt trat, merkte Abram gleich, dass mit seinem Vater etwas nicht in Ordnung war.
»Hast du getrunken?«, fragte er.
»Er hat nicht eingeschlagen«, sagte Terach, ohne aufzublicken.
Abram wusste, was er damit meinte.
»Nimm es nicht so schwer«, tröstete er seinen Vater. »Eines Tages werden wir die Stadt verlassen, und dein Traum geht in Erfüllung.«
»Abram ist ein guter Sohn«, dachte Terach. »Er will mich aufmuntern. Er glaubt an meinen Traum von der Freiheit. Vielleicht ist mein Traum wirklich auch sein Traum.«
»Komm, das Essen ist bereit«, forderte Abram seinen Vater auf.
»Lass mich noch eine Weile. Ich komme nach«, erwiderte Terach.
Abram verließ die Werkstatt und ging über den Hof zum Wohnraum, wo seine Stiefmutter, Sarai und die Brüder beisammensaßen, und berichtete, was er vernommen hatte.
Nahor und vor allem Haran freuten sich.
»Aber zeigt eure Freude nicht unserm Vater«, mahnte Abram, »es würde ihn schmerzen.«
Sia ging hinüber in die Werkstatt zu Terach. Sia war seine zweite Frau. Er hatte sie genommen, nachdem die Mutter seiner drei Söhne gestorben war. Sie war noch jung und schön. Auch Sarai, ihre Tochter, war lieblich anzusehen und stand gerade in dem Alter, wo sie sich wie eine Knospe zur Blume entfaltete.
Sarai und die Söhne warteten im Wohnraum, bis Sia mit Terach zurückkam. Doch keiner wagte, den Vater zu fragen, wo er gewesen sei und was er draußen vor der Stadt gemacht habe. Noch nie waren sie beim Essen so schweigsam gewesen. Bei einem Totenmahl ging es lustiger zu.
Nur als das Essen zu Ende war, sagte Terach:
»So, nun aber alle an die Arbeit!«
So blieb denn Terach mit seinen Angehörigen weiter in der Stadt Ur, hinter den hohen grauen Mauern, die sie wie ein Gefängnis umgaben. Nur seine Gedanken und Sehnsüchte vermochten sie zu übersteigen. Er träumte weiter von der Freiheit eines Nomadenlebens.
Die Sonne verfinstert sich
Haran war froh, dass der Handel seines Vaters mit dem Nomaden nicht zustande gekommen war. Er liebte die zumindest tagsüber vom Leben pulsierende Stadt und hätte sich ein seiner Meinung nach langweiliges Dasein auf dem Land nicht vorstellen können.
»Ich brauche Menschen um mich, nicht Schafe«, hatte er unmissverständlich zu Abram gesagt. Vor seinem Vater Terach aber verheimlichte er seine Freude. Der sprach nicht mehr zu seinen Söhnen über seinen Traum, den er weiter in seiner Brust bewahrte. Eines Tages würde er wohl doch noch in Erfüllung gehen.
Haran war schon immer ein aufgewecktes, fröhliches Kind gewesen. Auch als junger Mann hatte er seine Lebenslust behalten. So oft er sich von der Arbeit in der Werkstatt drücken konnte – es gab nicht immer gleich viel zu tun –, benutzte er die Gelegenheit und ging hinaus unter die Leute, wo er meistens einen Kumpel traf, mit dem er sich dann auf dem Markt oder in Kneipen herumtrieb.
Terach sah dies nicht gern. Vor allem vor den Kneipen hatte er seinen Sohn gewarnt. Denn die wurden meist von lasterhaften Frauen geführt, die über der Kneipe ihren Gästen in separaten Kammern junge Frauen gegen Silber in Form von Plättchen oder Ringen anboten, oft aber auch selber zu bezahlten Liebesdiensten bereit waren. Haran, so fürchtete sein Vater, könnte sich leicht verführen lassen. In seinem jugendlichen Ungestüm hatte er noch zu wenig Lebenserfahrung. Für seine beiden älteren Söhne brauchte er sich hingegen keine Sorgen zu machen.
Abram, der älteste der drei Brüder, war ernster, gewissenhafter. Auch wenn einmal kein Auftrag erledigt werden musste, gab es immer etwas zu tun, aufzuräumen, den Boden zu kehren, das in der Gegend so rare und darum auch teure Holz zu besorgen, Sand vom Euphrat zu holen oder einfach sich Neues auszudenken. Terach schätzte seinen Fleiß. Für seine Brüder war er, als sie noch klein waren, ein Vorbild gewesen, doch als sie älter wurden, ärgerten sie sich manchmal über ihn, der glaubte, die Vaterrolle übernehmen und zum Rechten sehen zu müssen, wenn Terach einmal das Haus verließ. Nur Sarai, seine kleine Schwester, schaute immer noch voll Verwunderung zu dem großen Bruder auf, der so viel wusste und immer bereit war, sie vor den andern Brüdern zu beschützen.
»Abram ist mir am ähnlichsten«, dachte Terach oft. Eigentlich hätte er von Haran am ehesten erwartet, dass er sich für das Nomadenleben begeistern ließe, er, der doch so oft aus der engen Werkstatt ausbrechen wollte. Für ihn war die Werkstatt ein Gefängnis, aber in dem äußeren Gefängnis innerhalb der Stadtmauern fühlte er sich offenbar wohl. Abram hingegen, der fast nie ohne guten Grund aus dem Haus ging, hatte sich von den dreien als Einziger enttäuscht gezeigt. Und wenn Abram auch kaum etwas sagte, so fühlte Terach doch, dass sein Ältester, wie er selbst, davon träumte, einmal aus dieser Engnis auszubrechen. Wenn Abram die Werkstatt verließ, dann nicht nur, um wie Haran durch die Stadt zu streifen. Meistens hatte er draußen eine Aufgabe zu erfüllen. Und das tat er besonders gern. Denn jedes Mal ging er mit ähnlichen überströmenden Gefühlen, wie Terach an jenem Tag, hinaus vor die Mauern, schaute über das Land und den Fluss hinweg in die Weite, bis an den flimmernden Horizont und stellte sich die Welt dahinter vor. Sie steckte doch voller Geheimnisse. Wohin floss der Euphrat? Natürlich ins Meer, das er nur vom Hörensagen kannte. Aber was war hinter dem Meer? Was war hinter den Hügeln und den Bergen? Andere Hügel und Berge? Und dahinter? Ein anderes Meer? Und auch hinter jenem Meer, nichts? Und oben der blaue Himmel mit seinen Wolken. Woher kamen sie? War da auch etwas über dem Himmel, an dem die Gestirne hingen? Fragen über Fragen, über die er so oft nachdachte, die aber ohne Antworten blieben. Und dennoch, Abram fühlte in solchen Augenblicken in sich ein großes Staunen über die Welt und ihre Geheimnisse, das ihn glücklich machte.
Wenn er dann in den Auen des Flusses den feinsten Sand, den er finden konnte, in einen Sack gefüllt hatte, kehrte er, beinahe berauscht