Dunkel ist’s im Wagen.
Nur durch die Ritzen blitzt etwas Helligkeit - aber auch eiskalte Zugluft.
Wohin geht’s? Wie lange wird die Fahrt dauern? Mief breitet sich aus. Am hinteren Wagenende ist ein Loch ausgesägt.
Stunden vergehen. Die Blase drückt. Der Magen drückt, der Darm plagt.
Vereinzelt stellt sich schon ein Mann ins Eck.
(Männer haben’s eben einfacher). Der Zwang besiegt letztendlich die Hemmungen. Es geht eben nicht anders.
Man kann jetzt nicht mehr von Mief sprechen – es stinkt.
Manche halten sich schon ein Taschentuch vor die Nase.
Kleinkinder müssen irgendwie trocken gemacht werden. Schreien, Weinen. Mütter säugen Babys an der Brust.
Die Menschen müssen sich verständigen und ihre Plätze wechseln. Die außen Stehenden sind schon ganz erfroren. Sie wollen auch mal zur Mitte, da ist es wärmer. Natürlich wollen die Innenstehenden nicht gern ihre warmen Plätze aufgeben. Gerangel.
Männer haben im „bestimmten Eck“ ein Brett aus der Wand gerissen, damit der Gestank erträglicher wird. Jetzt kommt dafür aber viel kalte Luft herein.
„Zumachen!“ schreit jemand.
„Auflassen!“ ein anderer, der in der Mitte steht.
„Du hast gut reden, bei dir ist’s warm!“
So geht es. Die Stimmung ist gereizt und auf dem Tiefpunkt.
Soll es so vielleicht tagelang weiter gehen, stellt sich mancher die bange Frage.
Eine alte Frau ist zusammengebrochen. Die Strapazen wurden ihr zu viel. Sie will aber auch nicht mehr! Zu was denn - es geht fort - ihre Heimat ist verloren - Haus, Hof, ihr kleiner Acker - wo sind ihre Angehörigen, sie hat sie hier im Wagen nicht mehr gesehen. Warum soll sie also weiterleben?
Für ein Sträflingslager in Sibirien? - letztendlich bis zum Verrecken? Dass sie etwas Gutes erwartet, daran glaubt sie nicht mehr. Sie liegt am Boden. Außen an der Seitenwand. Scharfer Fahrtwind zieht durch die Ritzen herein.
Sie spürt es irgendwann nicht mehr… hat sich ein Höherer erbarmt?
Stunden endloser Fahrt.
Man hat kein Gefühl, in welcher Gegend man sich befinden könnte. Für sie war ja sowieso alles fremd, was mehr als ein paar Kilometer von ihrem Heimatdorf entfernt lag. Man ist ja nirgends hingekommen.
Durch die Ritzen sieht man schwach, dass es schneit.
Wird der Zug langsamer? Tatsächlich. Ruckeln. Der Zug steht.
Nichts tut sich. Männer wollen den Verschlag öffnen. Es geht aber nicht. Die Verriegelung ist außen.
Was haben DIE mit uns vor?
Etwas entfernt hört man russische Kommandos.
Hundegebell. Klagende Menschen. Ein Schuss.
Oh Gott, wollen die uns erschießen???
Die an der Seitenwand Stehenden starren gebannt aus den Ritzen. Da vorne sieht man Soldaten mit Gewehren im Anschlag. Ihre Hunde zerren wild an ihren Ketten.
Leidensgenossen verbreiten sich über ein freies Feld.
Jetzt wird auch ihr Verschlag entriegelt und aufgerissen.
Die direkt vorn Stehenden fallen zum Teil heraus, ganz steif vom langen Stehen auf einer Stelle und von der Kälte.
Wsem wychoditj – Weshi ostawitj! (Alles aussteigen - Gepäck drinlassen!)
Vater im Himmel - das ist bestimmt unsere letzte Stunde?!
Für die Transporte sind jeweils Sprecher der Evakuierten ausgesucht worden, die russisch reden. Mit diesen besprechen die Russen etwas.
Alle spitzen die Ohren. Unruhe, Angst…
Manche fangen schon an zu weinen. Mütter drücken ihre Kinder an sich, Männer umarmen ihre Angehörigen.
Ihr Sprecher kommt auf sie zu: „Wir machen hier Rast, es passiert euch nichts, ihr könnt austreten, aber dass keiner den Versuch unternimmt, abzuhauen. Die warten nur drauf, sie möchten gern mal wieder schießen und die Hunde möchten auch ihren Spaß haben.“
Alle reden durcheinander.
„Wir müssen auch etwas essen, in den Wagen war es ja nicht gut möglich.“
Der Sprecher entfernt sich, verhandelt und kommt wieder zurück. „Also gut, ihr dürft von euren Sachen was herausnehmen, aber alles wieder in die Wagen legen, es kann jederzeit weitergehen.“
Hektik. Die einen bemühen sich, schnell etwas aus ihrem Bündel herauszuholen, andere suchen, soweit es ihnen ermöglicht wird, ein Plätzchen, wo sie sich erleichtern können. Hemmungen haben jetzt keine Gültigkeit mehr.
Überleben heißt die Devise.
Bohrende Fragen haben die Unglücklichen auf den Lippen:
„Wo sind wir, wo werden wir hingebracht, was wird mit uns geschehen?“
Ihr Sprecher hat eine beruhigende Erklärung parat:
„So viel ich weiß, werden wir alle in den Westen gebracht, bestimmt nach Österreich oder Deutschland. Zurück kommen wir bestimmt nicht mehr. Ich glaube auch nicht, dass wir in Gefangenschaft müssen.“ Gemischte Gefühle. Erstmal Erleichterung, die Minen hellen sich auf.
Der Verlust ihrer Heimat tut weh - wird aber im Augenblick verdrängt.
Wichtig ist jetzt, den Transport zu überstehen. Wie weit ist Deutschland überhaupt entfernt? Die ganze Zeit in dem eiskalten Zug, da werden viele erfrieren.
Reicht unser Essen? Die geben uns bestimmt nichts! (so viel sie sehen, leben die Soldaten auch nicht üppig).
Sie stehen mit ihrem Zug auf freiem Gelände, offensichtlich eine Ausweichstrecke. In einiger Entfernung sieht man einen großen Fluss. Das muss die Donau sein.
Zwei Transportzüge mit Militärfahrzeugen beladen und ein Zug mit Soldaten, fahren in Gegenrichtung vorbei, wahrscheinlich in Richtung Heimat.
Zum Teil fröhlich dreinblickende Gesichter schauen aus den Fenstern, manche singen sogar.
Ein Soldat wirft irgendeine Dose heraus.
Bevor aber ein Kind danach greifen kann, hat sie schon einer ihrer Wächter an sich genommen. Der reißt die Dose auf und verschlingt den Inhalt. Offensichtlich war was Essbares drin.
Pfeifen, Befehle, es geht weiter. Dawaj, dawaj idi!
Schnell alles zusammenpacken und einsteigen. Im ganzen Durcheinander, bemerkt man erst jetzt, dass die alte Frau, die schon im Wagen den Zusammenbruch hatte, reglos im Schnee liegen bleibt. Zuerst wollen zwei Männer sie aufheben, in den Wagen rein hat aber keinen Sinn – zu spät! Begraben? – unmöglich.
„Dawaj“ - in die Wagen, schnell, schnell.
Gott sei Dank, ein paar waren so beherzt und haben die Notdurft-Ecke sauber gemacht. Vom Gebüsch hat man Zweige abgerissen und in die Ecke gelegt. So ist der Platz nicht mehr ganz so unansehnlich. Ist alles beieinander? Der Verschlag wird schon zugehauen und verriegelt. Pfeifen, Kommandos, Ruckeln und schon setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Die an der Seitenwand Stehenden sehen noch aus den Ritzen das traurige Bündel Mensch, das einsam im Schnee im Nirgendwo zurückbleibt.
Tränen in den Augen.
Also: Westen. Zukunft ungewiss.
Diesmal dauert es nicht mehr Stunden.
Die Stimmung ist durch das Klammern an die Hoffnung auf einen relativ guten Ausgang ihrer Reise gestiegen. Die Fahrt verlangsamt sich. Es geht an bereits stehenden Zügen vorbei. Überall Soldaten. Zeltlager. Im Schritttempo