Die zurückbleibenden Deutschen mussten so mit ansehen, wie ihr bescheidener Besitz größtenteils verwahrloste und verfiel.
Alles „Deutsche“ wurde auf jeden Fall untersagt.
Letztendlich hatten diejenigen Glück, die sich für „deutsch“ entschieden hatten – das zeigte sich aber erst nach vielen Jahren, nachdem sie in ihrer „neuen alten“ Heimat integriert waren und es ihnen besser ging.
Von „Glück“ zu reden, betraf aber nicht die Alten, von denen sich viele nie mit dem Verlust ihrer Heimat abfinden konnten.
Kapitel 3
Die Vertreibung beginnt
1945. Das traurigste Weihnachtfest aller Zeiten.
Vor zwei Tagen hatte auch hier das Schicksal zugeschlagen, jetzt war dieser Landstrich dran: Die Deutschen werden ausgesiedelt – (schönes Wort)
So voll war die Kirche noch nie. In dem 4000-Seelen-Ort lebten über 3000 Deutsche – alle katholisch und die meisten mussten fort. Viele verharrten vor der Kirche, damit sie auch noch einen Segen vom Pfarrer erhielten.
Neues Jahr 1946.
Eisiger, harter und schneereicher Winter.
Mit dem Notwendigsten, was jeder so tragen kann, geht es ins Ungewisse.
Zu Fuß machen sich die Menschen auf den Weg durch Schnee in eisiger Kälte - Richtung Budapest. Angetrieben auch von ungarischer Miliz.
Manche haben das Glück, mit einem Pferdefuhrwerk mitfahren zu können oder wenigstens ihre Habseligkeiten auf einen Wagen aufladen zu dürfen.
Teilweise werden auch manche, vorrangig Kranke, mit Militärlastwagen oder Sanitätswagen transportiert.
Ein elender Zug windet sich durch den Schnee.
Die letzten Blicke zurück - Tränen in den Augen. Im trüben Wintertag, die graue Silhouette - der Kirchturm - zum allerletzten Mal. Viele beten, bekreuzigen sich. Sie spüren, das ist für immer. Sie denken an die Angehörigen, die sie auf dem Friedhof zurücklassen müssen. Das ist im Moment das Schlimmste.
Nicht einmal Blumen konnten sie ihnen zum Abschied hinstellen - jetzt im Winter. Mancher hatte noch zum Abschied einen Rosenkranz an das Kreuz eines Angehörigen gehängt.
Most megj tovab - Auf, weiter geht’s
Kleine Babys, unkenntlich eingewickelt in Tragetücher, die sie vor der Kälte schützten sollen, um den Hals gehängt, wimmern, weinen… Hunger… stillen? Trocken legen? – wie denn?!
Immer schauen, dass man zusammenbleibt…
Wo ist die Oma? … Wo ist denn nun wieder der Toni?
Wo ist der Johann? - So geht es unterwegs.
Der Tag vergeht. Müdigkeit. Die Beine schmerzen. Die Finger frieren. Die Nase läuft.
Schon wieder austreten – wartet auf mich…
Die dahinter Nachkommenden strömen auf der ausgetretenen Schneespur vorbei.
Militärfahrzeuge kommen hupend von hinten, Soldaten fluchen.
Menschen quälen sich seitlich in tieferen Schnee, um auszuweichen.
Platz da – wir sind die Sieger! Mancher fällt in den zugewehten Straßengraben. Mühsam wieder herauskrabbeln, weiter geht’s. Ja niemanden verlieren!
Mutter, ich hab so einen Hunger…
In Decken eingehüllt, um sich vor dem beißenden Schneewind zu schützen, bewegt sich der gesichtslose Zug.
Welches sind meine Angehörigen? Alle sehen gleich aus…
Aus anderen Orten stoßen weitere Menschenschlangen dazu und vermischen sich.
Es wird immer unübersichtlicher.
Der Strom wird immer größer. Manches Gepäckbündel bleibt am Rande liegen. Ist es zu schwer geworden? Verloren?
Viel wichtiger ist, dass man seine Angehörigen nicht verliert, dass alle zusammenbleiben.
Eine Oma mit den sowieso kranken Beinen kommt nur langsam und mit Unterstützung ihres Sohnes weiter – sein Gepäck muss er auch schleppen und sein jüngstes Kind hängt an seinem Hosenbein.
Aber Soldaten der siegreichen roten Armee drängen weiter:
„Ostawj babku lezhatj - Lass die Alte liegen“.
Tatsächlich, je näher es Budapest zugeht, liegt hier und da ein größeres Bündel – das hier sieht doch aus wie ein Mensch? - schon teilweise mit Schnee bedeckt, teilweise schon der schützenden Decke entledigt – der am Boden Liegende braucht sie bestimmt nicht mehr.
Hat die schon jemand mitgenommen, weil sie ein (noch) Lebender dringender brauchen kann?
Wer ist es? – wer war es? – ist es sogar ein Bekannter? – gar ein Verwandter???
Dies wird niemand mehr erfahren und auch die späteren Finder nicht interessieren.
Die Gedanken dürfen sich nicht verweilen - weiter geht’s, Daljsche.
Sie nähern sich der großen Stadt.
Viele waren, obwohl es nur ca. 25 Kilometer sind, noch nie in ihrer Hauptstadt, haben aber oft davon geträumt, sie irgendwann einmal zu sehen.
Dass man aber unter diesen Umständen hierher kommt, hat man sich nicht vorgestellt. Wahrscheinlich ist dies aber auch das erste und letzte Mal…
Budapest hat man stets nur „die Stadt“ genannt, es gab ja sonst keine andere, wenigstens nicht im weiten Umkreis.
Früh setzt heute die Dämmerung ein.
Dunkelheit, kaum Lichter. Zerschossene Ruinen ragen wie mahnende Finger in den nachtschwarzen Himmel.
Was sollen wir hier?
In den Straßen, auf freien Plätzen, in Bauruinen - überall lagern schon Menschen.
Einen Platz suchen für die eine Nacht oder für mehrere?
Immer wieder Aufrufe, Kontrolle nach den Namenslisten.
Die Bewohner der verschiedenen Orte müssen zusammen-bleiben.
Militärfahrzeuge und Fußtrupps bahnen sich Wege durchs Chaos.
Alles ist in eine bestimmte Richtung orientiert - Richtung Bahnhof.
Züge füllen sich mit Soldaten. Militärfahrzeuge werden auf Transporter geladen.
Lärm. Flüche. Kommandos. Nachts rollen ununterbrochen die Militärtransport-Züge in jede Himmelsrichtung. Soldaten werden fortgefahren. Gefangene aufgeladen – fort. Andere kommen an – weitere Gefangene quellen aus den Viehwagen. Die werden wohl für irgendwelche Arbeitseinsätze benötigt.
Verwundete werden ausgeladen. Sanitätsfahrzeuge rasen, teilweise mit Alarm-Signal, durch das Menschengewühl, wahrscheinlich ins nächste Lazarett.
Sobald der Morgen graut: Trillerpfeifen, Aufrufe zum Sammeln. Abmarsch Richtung Züge.
Vieh-Transporter, ganz selten auch normale Personenwagen, alles was irgendwie tauglich ist, um die vielen Menschen in möglichst kurzer Zeit fortzubringen. Alles füllen. Schnell, schnell. Manches Gepäckstück bleibt liegen.
Wagen voll? – gibt’s nicht! - immer noch mehr rein.
Schreien. Hoffentlich sind alle Angehörigen zusammen.
Türen, Verschläge zu! Pfeifen, Tüüüt,