*
Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin.
(Mark Twain)
Ambrosius Pistillum, der Leiter der Organisation »Salomons Ring«, saß in seinem Büro und litt regelrecht unter dem Gewicht der Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete. Im Sommer letzten Jahres übernahm Ambrosius den Posten seines Vorgängers, Sal Ormond. Dieser quittierte den Dienst, weil er sich ausgebrannt fühlte und befürchtete, gänzlich den Überblick verloren zu haben. Zu allem Überfluss bekam Sal eine Identitätskrise; und wie sich herausstellte, war er ein Vampir. Allerdings einer der humanen Sorte. Als hätte Ambrosius es nicht schon vorher geahnt. Jedenfalls outete sich Salvatore Ormond ein wenig später als Cornelius del Monte, einem über tausendjährigen Vampir. Warum Cornelius es ihm nie vorher sagte, blieb ihm nach wie vor ein Rätsel. Ambrosius dachte, er und Sal, alias Cornelius, wären so etwas wie alte Freunde. Jemand, der tagtäglich mit Orks, Ogern, Zentauren, Zyklopen, Engeln, Dschinns, Dämonen, Kobolden und Gespenstern zu tun hatte, konnte wirklich nichts mehr schockieren.
Ansonsten sah sich Ambrosius jeder Situation gewachsen. Bei ihm handelt es sich keinesfalls um einen normalen Menschen, sondern einen Magier der Hohen Schule. Er machte um sein wahres Alter mindestens genauso einen Hehl, wie zuvor schon Salvatore Ormond. Er fühlte sich immer ein wenig geschmeichelt, wenn jemand erwähnte, er sähe dem Schauspieler Peter Cushing ähnlich. Nur im Moment wirkte er alt und abgehärmt und ihm war eher danach, den Kopf tief in den Sand zu stecken. Diese vertrackte Situation war größer als die Summe ihrer Teile.
Er sehnte sich zurück zu den alten Zeiten, wo er einem eher gelangweilten Haufen Schülern, die hohe Kunst der Magie näher zu bringen beabsichtigte. Zumindest konnte er damals noch von so etwas wie Freizeit sprechen, wenn er nach getaner Vorlesung das Auditorium verließ. Doch in seiner momentanen Position, fühlte er sich zurzeit wie in einer nicht enden wollenden Tretmühle.
Sein Handy riss ihn klingelnd aus den Tagträumereien - was den Magus zusammenfahren ließ. Dabei stieß er mit dem Ellenbogen den Kaffeebecher um, was wiederum sein zahmes Stinktier, Edward Mullen, auf den Plan rief. Wie ein Dieb in der Nacht, pirschte das Tier unter seinen Schreibtisch, wo es geduldig im Schatten verharrte.
Fluchend wischte Ambrosius einhändig die Kaffeelache mit einem Wust Kleenex-Tüchern vom Tisch, während er mit der anderen Hand das wild rotierende Handy ergriff; abermals fluchend die Anzeige auf dem Display ablas und sich alles in ihm sträubte, ausgerechnet dieses Gespräch entgegenzunehmen.
Zu seinen Füßen leckte das kleine Stinktier gierig den herabtropfenden Kaffee auf.
»Ja? Hier Ambrosius, was gibt´s?«, fragte der Magus vorsichtig.
»Was ist los mit dir? Ich bin´s Cornelius. Wo brennt´s? Du meine Güte, ich bin echt beliebt, weil du und deine Sekretärin mich mindestens zwölfmal zu erreichen versuchtet. Das muss schon etwas Dringliches sein. Während des Fluges war mein Handy ausgeschaltet«, entschuldigte er sich gleich darauf.
»Tut mir leid. Ich erfuhr erst im Nachhinein, dass du dich im Urlaub befindest. Und das noch nicht mal allein, du alter Schwerenöter!«, neckte Ambrosius zurück.
»Äh, ja... Nachdem die Verhandlung in Oslo platzte, beschloss ich, einen Tag eher nach New York zu fliegen. Während meiner Australienreise habe ich jemanden kennengelernt. Sie ist unglaublich... Äh, aber das steht jetzt nicht zur Debatte. Sag, wo drückt der Schuh?«
Dem Magus lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Wie schön für dich, das freut mich. Ähem... Ja, eigentlich hat sich diese Sache von selbst erledigt...«, wiegelte er ab.
»Ach, komm schon, Ambrosius! Mach mir nichts vor. Ich kann es an deiner Stimme hören, dass es so nicht der Fall ist. Sag mal, weißt du eigentlich, wo sich Esther herumtreibt? Sie ist telefonisch nicht zu erreichen, niemand weiß wo sich das Mädel aufhält, und das Flüstern scheint über diese weite Distanz nicht zu funktionieren.«
Ambrosius bekam zusätzlich eine Kopfgänsehaut... »Um ganz ehrlich zu sein, es ist etwas Schlimmes passiert. Es geht um Ragnor...«
»Du meine Güte! Er ist doch hoffentlich nicht betrunken Auto gefahren, oder?«, stöhnte Connie entsetzt.
»Nein, es ist noch viel schlimmer. Soweit wir die Vorkommnisse rekonstruieren konnten, entwendete er mit einem Taschenspielertrick Simons Ausweis, schlich im Stealth-Modus in Simons Labor und wollte mit Hilfe des Teleporters, durch ein Zeitportal in die Vergangenheit reisen. Genauer gesagt, nach Høy Øya, um Amandas Tod zu verhindern. Leider Gottes, hat er das Gerät nicht korrekt bedient...«
»Verflucht! Seit Godfrey an einer Quecksilbervergiftung in Versailles starb, ist Ragnor mein einziger noch existierender Blutsbruder und liegt mir wirklich am Herzen. Aber wenn er Scheiße baut, dann richtig! In dieser Beziehung ist der Kerl ein echtes Ausnahmetalent. Wie konnte er die Wachen vor dem Labor überwinden? Wurde er im Gerät gebraten? Was passierte mit ihm?«, fragte Cornelius beunruhigt, während Pistillum mit einem Gefühl akuter Atemnot kämpfte. Mit zittrigen Fingern zog er sein Asthma-Spray aus der Jackentasche und inhalierte vorsorglich. Dieser Vorgang gab ihm die Zeit, seine Antwort etwas genauer zu überdenken, ehe er sie formulierte.
»Er überrumpelte die Wachen, indem er sich einen Nano-Anzug mit Licht beugender Fähigkeit anzog, dazu fanden wir in seinem Büro eine leere Phiole, die dein Assistent Wilbur, als einen deiner Unsichtbarkeits-Tränke identifizierte.«, erläuterte der Magus. »Den hat Ragnor dir wohl stibitzt. Die Leute vom Sicherheitsdienst sagten aus, sie hätten niemanden nahen sehen. Letztendlich wissen nicht genau, was mit Ragnor danach passierte, er verschwand durchs Portal. Der Wappler war definitiv wieder einmal kaputt. Simon erkannte es an dem typischen Geräusch. Na und? Wenn Ragnor gebraten wurde, machte es ihm nichts aus. Er ist feuerfest. Das Problem liegt woanders.«
»Dieser Halunke, er hat mich schon wieder bestohlen! Ach ja, und was wäre das besagte Problem? Sag mal, wieso habe ich das Gefühl, ich müsste dir jeden Brocken einzeln aus der Nase ziehen?«, insistierte Cornelius leicht gereizt.
»Es ist zum Auswachsen! Ragnor ist in eine völlig falsche Zeit geraten und das ohne Rückfahrkarte! Und du weißt, dass ich in Zugzwang geriet, weil wir alles unternehmen müssen, um unsere Mitarbeiter unbeschadet zurückzubekommen. Logischerweise gefährde ich dann abermals das Leben eines anderen Mitarbeiters«, legte Ambrosius die Situation dar.
»Das bedeutet, du hast nichts unternommen? Wie weit hat Ragnor die von ihm angestrebte Zeit verfehlt?«, hakte Connie nach.
»Sagen wir es mal so, er hat sie um Längen verfehlt. Er befindet sich weit in der Vergangenheit. Zu weit ... Natürlich habe ich etwas unternommen. Wir mussten auf Freiwillige zurückgreifen, denn niemand wollte sich opfern, weil die Zeitreise bisher noch nicht erprobt wurde.«
»Wer?«, drängte Cornelius.
»Molly Flannigan. Plötzlich stand sie im Labor. Anscheinend hat sie einen Riecher dafür, wenn Ragnor in Schwierigkeiten steckt, sie war ja schon immer ganz vernarrt in diesen Burschen. Jedenfalls tauchte sie unerwartet auf und drehte heftig an der Orgel. Sie stellte sich sozusagen selbst wieder als Mitarbeiterin ein.«
»Oh Gott! Das Mädchen ist eine echte Plage! Du hast sie doch nicht allein durch das Portal geschickt, oder?«, fragte Connie besorgt.
»Simon und ich versuchten ihr das Vorhaben auszureden, nun, du kennst Molly, sie gab ums Verrecken nicht nach. Als ich erwähnte, ich dürfe keinen weiteren Mitarbeiter gefährden, kündigte sie sofort wieder, mit der Begründung, ab jetzt keine Mitarbeiterin mehr zu sein. Cornelius, diese Frau ist eine gottverdammte Nervensäge! Simon musste noch den Wappler reparieren und ich versuchte, dich zu finden. Leider ohne Erfolg«, bemerkte Ambrosius.
»Dann ist Molly doch allein durchs Portal?«, tastete er sich vorsichtig voran.
Ambrosius