Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214989
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‚Neutralisation der Kräfte‘. Die Kraft der italienischen Arbeiterbewegung soll durch den Aufwind der Rechtsradikalen geschwächt und in einer Art paralysierender Beschäftigungstherapie neutralisiert werden. Wenn sich die fortschrittlichen Kräfte nicht um die Zukunft, sondern um die Abwehr rückwärtsgewandter Ideologien kümmern müssen, dann ist das gut für die herrschende Klasse und für den ungestörten Weiterfluss ihrer Profite und schlecht für die sozialen Perspektiven.“

      „Danke für deinen Mammutvortrag“, sagte Wolle. „Lernt ihr sowas in euren Politikseminaren?“

      „Unter anderem.“ Ich musste lachen. „Tut mir leid, wollte euch nicht vollschwätzen.“

      „Ist schon gut“, sagte Gerd. „Es ist so offensichtlich, und doch verstehen es die Massen nicht. Allein die weltweiten Militärstützpunkte der USA bedeuten in der Sprache der Herrschaft: „Wir beanspruchen alles, bedingungslos; die Macht gehört uns!“

      Jetzt, mitten in Marrakesch, fühlten wir uns fast ohnmächtig und sehnten uns nach ein klein wenig mehr Macht, nach ausreichender Macht und Kraft, um Svea aus dem arabischen Dschungel von Tausendundeiner Nacht zu befreien.

      Wir gingen zum Djemaa und fragten alle Vorübergehenden, ob sie Nine, den dreckigen Kerl, gesehen hätten. Auf dem großen Platz tummelten sich etliche Jungs aus seiner Bande, und Jan-Stellan bekam einen zu fassen und fragte, wo sich Nine versteckt hielt. Der Junge rief seinen Kumpanen etwas auf Arabisch zu, und innerhalb von drei Minuten kam Nine über den Djemaa stolziert, eine Falafel in der rechten Hand.

      „Ihr sucht mich?“, fragte er unschuldig. Er ging direkt auf Sören zu, der ihn wutentbrannt anstierte.

      „Was hast du mit Svea gemacht?“, brüllte Sören, wohl um uns zu beweisen, dass er sich wie wir größte Sorgen um sie machte.

      „Svea ist weg“, stellte Nine in einem Ton fest, wie ein Gesandter, der mit einem feindlichen Herrscher verhandelt.

      „An wen hast du sie verkauft?“, fragte Jan-Stellan und ging einige Schritte auf Nine zu.

      „Ich weiß nicht, was du meinst.“

      „Wo sie ist, will ich wissen!“

      „Im Augenblick wahrscheinlich mit zwei sauberen jungen Männern im Bett.“

      „Wo? Wo, hab ich gefragt!“ Jan-Stellan versuchte, den kleinen Kerl zu packen, der sich jedoch mit drei schnellen Schritten rückwärts bewegte, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen.

      „Warum sollte ich es euch sagen?“, fragte Nine, dem sich nun auch Leif von der Seite näherte.

      „Weil ich in einer Minute die Polizei rufe.“ Leif schaute auf seine Armbanduhr, betätigte die Stoppuhrtaste. Das Klacken war deutlich zu hören. Er begann die Sekunden zu zählen. „Die Zeit läuft!“

      Nine erkannte, dass der Däne seine Drohung ernst meinte. „Ich nichts Schlechtes getan.“

      Nine wechselte auf eine gespielt hilflose Sprachvariante, um uns zu verarschen.

      „Ich ihr sagen, dass zwei nette Herren wollen mit ihr schlafen gegen gutes Geld. Sie will. Die Herren wollen. Ich habe nix damit zu tun. Was kümmert das die Polizei?“

      Er hatte Recht.

      „Wohin sind sie mit ihr gefahren?“, fragte ich zitternd vor Wut. Nine verweigerte die Antwort, und ich erwischte ihn wutentbrannt an der Jacke. „Rede!“, sagte ich im Befehlston. John verfolgte alles und ich ahnte, dass er drauf und dran war, einzuschreiten. Mit einer Armbewegung signalisierte ich ihm, es uns zu überlassen. Ich wollte ihn nicht in eventuelle Unannehmlichkeiten mit der spanischen Polizei bringen, denn damit mussten wir rechnen – und John als „vorbestrafter“ Ausländer? Ich wollte nichts riskieren.

      In diesem Moment griff der starke Arm von Jan-Stellan nach dem Jungen, und Nine kreischte: „Halt ihn weg von mir!“

      Ich riss das kleine Ekel zurück und gab dem Dänen mit den Augen zu verstehen, ihn mir zu überlassen. Während ich ihn schüttelte, grinste Nine plötzlich und fragte: „Wieviel zahlst du?“

      Ich war so angeekelt, dass ich ihn nun doch Jan-Stellan überließ, der ihm kaltblütig den Arm verrenkte, bis Nine brüllend vor Schmerz die Augen verdrehte, woraufhin ich ihn wieder an mich riss. „Halt, Jan!“, rief ich. „Erst müssen wir herausfinden, wohin die beiden mit Svea gefahren sind.“

      „Was ist es euch wert?“, beharrte Nine nun wieder keck, weil schmerzfrei.

      „Weißt du, wo sie ist?“, fragte ich zurück.

      „Ich weiß es.“

      „Wo?“

      „Wieviel?“, wiederholte der Junge, woraufhin Jan-Stellan zu meiner Überraschung begann, den Zwanzigjährigen wirklich fest auf den Kopf zu schlagen.

      „Du Sauhund“, flüsterte er. „Sag endlich, wo sie ist, oder ich schlage dich tot.“

      Nine entwand sich ihm halb, drehte sich schnell wie ein Windhund ihm zu und rotzte ihm direkt ins Gesicht. Jan war so überrascht, dass er seinen Griff lockerte und Nine sich losreißen konnte. Aus sicherer Entfernung beschimpfte er uns auf Englisch. John wollte ihm nachstellen, aber ich hielt ihn zurück.

      Die Passanten, die sich als Touristen hier aufhielten, schauten uns böse nach. Er bezeichnete uns als europäische Großdealer, die ihn, den kleinen Marokkaner, betrogen hätten. Wir wären Neokolonialisten, die ihn und seine armen Brüder ausbeuteten. Einige Touristen blieben verwundert stehen, wohl im Zweifel, ob sie uns stellen und die Leviten lesen sollten.

      Es bestand keinerlei Hoffnung, den kleinen Drecksack in dieser Nacht noch einmal zu erwischen. Aus der Ferne sahen wir ihn noch inmitten seiner Bande, vor der er offensichtlich damit prahlte, wie er das Hippie-Mädchen aus dem Hotel geholt und sich aus Jans kräftigem Griff befreit hatte.

      Wir waren nicht in Jubellaune und gingen wie begossene Pudel zurück ins »Marseille«. Nach unergiebigem Hin- und Her-Diskutieren, was wir nun als nächstes unternehmen sollten, machten Stella, Gerd, Wolle und ich uns auf den Weg zum Casino-Hotel »Mamounia«, um uns für einen Augenblick auf neue Gedanken zu bringen. Aber in meinem Kopf kreisten sämtliche Gedanken selbstredend nur um Svea.

      In der Nacht hatte ich wüste Albträume, in denen Jan-Stellan den arabischen Jungen schlug und daraufhin eine Horde kleiner Kinder und Jugendlicher wie ein Schwarm über uns herfielen. Der nächste Morgen war schrecklich. Bei Tageslicht war der Schmutz in diesem etwas heruntergekommenen Hotel nicht zu übersehen, eben ein typisches Hippiequartier. Wir wussten nicht, was zu tun sei. Am Frühstückstisch saßen wir schweigend da und hörten auf die Gespräche an den Nachbartischen. John machte einen sehr bedrückten Eindruck.

      Gott sei Dank erwähnte niemand von unseren Frühstücksnachbarn die weitverbreiteten Geschichten über schöne, hellhäutige Hippiemädchen, die mit Haschischplätzchen gefügig gemacht und dann in ein Leben der Prostitution und Sklaverei entführt wurden. Mit solchen Geschichten konnte man Neulinge verschrecken. Mehr aber noch John wehtun.

      Stella meinte, Svea sei wahrscheinlich freiwillig mit den Marokkanern – wenn es denn welche gewesen seien – durchgebrannt, würde sich aber erst wieder in Marrakesch blicken lassen, wenn sie sicher sein konnte, dass ich sie nicht mehr suche.

      „Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie in höchster Gefahr schwebt. Sie kann ihr Handeln doch wohl kaum mehr selbst einschätzen. Und wir können nicht hier sitzen und so tun, als sei nichts geschehen.“ Ich war verbittert ob unserer gestrigen Niederlage.

      „Keiner tut so, als sei nichts geschehen“, sagte Wolle. „Nur müssen wir jetzt die Nerven behalten. Wir finden sie!“

      Zwei Tage vergingen, ohne dass wir von Svea etwas gehört hatten. Am Morgen des dritten Tages kreuzte zu unserer Überraschung Nine im Hotel auf, vergnügt und locker wie immer. „Ich will euch noch eine Chance geben“, sagte er. „Ich rede aber nicht mit dem Dicken!“ Er deutete auf Jan-Stellan, der nicht dick, sondern sehr muskulös war. Ich sah Jan Luft holen, trat ihm aber unter dem Tisch