Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214989
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andere Ideen im Kopf. Jedenfalls hatte sie die Verhaftung ihres Geliebten und sein Verschwinden von einem Tag auf den anderen so arg mitgenommen, dass sie in eine akute psychische Krise geraten war. Ein Jahr lang hatte sie einmal pro Woche die beschwerliche Busfahrt nach Malaga unternommen, um sich therapieren zu lassen.

      Sie konnte John nicht besuchen. Das Konsulat verweigerte jegliche Auskunft über seinen Verbleib. Svea blieb in dieser brutalen Realität hilflos zurück. Wir hatten damals von John ausführlich erfahren, wie brutal es auch an der amerikanischen Heimatfront aussah. Er hatte uns über die Totschlag-Orgien der Nationalgarde gegenüber den Schwarzen und den Studenten berichtet. Er war dem Einberufungsbefehl nicht gefolgt, war über Kanada geflüchtet und war von den US-Behörden seitdem über alle amerikanischen Konsulate und über alle Kontinente hinweg gesucht worden.

      Er war einer von Hunderttausenden auf einer jener langen Desertionslisten. Deshalb hatten ihm seine amerikanischen Freunde aus der Friedensbewegung einen falschen Pass besorgt und er musste ein Leben im Untergrund führen, was im Barkeeper-Dasein im Alamo geendet hatte. Keiner der Soldaten, die damals dort verkehrten, kannte seine wahre Identität. Aber einer musste ihn schließlich doch erkannt und verraten haben.

      Ich weiß nicht, was mich bewog, aber als jetzt die spanische Bedienung, beladen mit Hippie-Schmuck, freundlich blinzelnd an unseren Tisch tänzelte, fragte ich sie, ob sie einen Amerikaner namens John kenne, der hier einmal gearbeitet habe. Die junge Frau sprach ein ausgezeichnetes Englisch; sie war höchstens neunzehn Jahre alt und konnte John eigentlich nicht kennen. Doch zu meinem Erstaunen bejahte sie freudig und sagte, dass John hier neu hinzugekommen sei. Er habe allerdings noch nie zuvor hier gearbeitet. Mir stand die Enttäuschung wohl ins Gesicht geschrieben, denn sie meinte: „Er arbeitet heute Abend hier und unterhält sich gerne mit deutschen und skandinavischen Gästen. Lernt ihn doch einfach kennen!“

      Als er schließlich kam, war es mein John.

      Er war groß und schlank, nur nicht mehr ganz so athletisch, eher etwas dürr; er trug wie damals Gibran-Masche, das heißt, er trug sein Haar im Jesusstil, dazu seine, ihn wohl nie verlassen wollenden, Jesuslatschen. Der wallende Bart von früher war einem gepflegten und gestutzten Bart gewichen, der sein längliches Gesicht jetzt umrahmte. Als mich seine blauen Augen entdeckten, begannen sie sofort zu funkeln und er stürzte auf mich zu.

      „Kara!“, rief er aus. „Gott hat dich geschickt!“ Freudentränen strömten bei ihm wie bei mir, wobei sich meine Tränen der Wiedersehensfreude mit der Traurigkeit und der insgeheimen Sorge um Svea mischten.

      „Es ist eher Svea, die uns hier zusammenführt“, sagte ich.

      Ich stellte ihm Wolle und Gerd vor. Der Abend wurde lang. John machte seinen Job hinter dem Tresen, kam aber jede freie Sekunde zu uns und ließ sich alles erzählen. Noch wusste er nicht, was mit Svea geschehen war. Als das Alamo gegen ein Uhr morgens schloss, stand sein Entschluss fest.

      „Ich suche mit euch nach Svea. Einverstanden?“

      „Und wie!“, antwortete ich, und John ging zu der Spanierin und erklärte ihr die Situation. Ich sah, wie sie ihn anschmachtete und ihm dann mit einem traurigen Blick einen Kuss auf den Mund gab.

      Irgendwie passte Johns abgewetzte Jeans immer noch zu ihm, obwohl er sichtlich älter geworden war, wie auch das Farmerhemd, wobei er keine jener beliebten Hippie-Westen mehr trug, die einmal sein Wahrzeichen waren. John musste am nächsten Tag noch einige Dinge erledigen, und so wir schliefen noch eine Nacht im Isabel. Wir wollten ausgeruht die Weiterfahrt antreten.

      Einen Tag später setzten wir mit der Fähre nach Tanger über. Das Klima hier war mit einem Mal wesentlich milder. Wir trugen jetzt nur noch T-Shirts. Ohne Pause ging es Richtung Marrakesch, wo wir uns von unterwegs telefonisch im Hotel Marseille angemeldet hatten, mit der Bitte, unsere Ankunft Stella, Leif und Jan-Stellan zu avisieren.

      Während der Fahrt hatte John natürlich tausend Fragen zu Svea. Besonders das Missbrauchsereignis, das ihr durch den damaligen spanischen Geschäftsführer des Alamo widerfahren war, interessierte ihn und machte ihn wütend. Aber es war geschehen. Und geschehen war auch Sveas tiefer Absturz in die Höllenwelt der Drogen. Alle seine besorgten Fragen zeigten mir, dass er sie immer noch liebte. Auch als er über seine isolierte Haftzeit in einer Zelle des amerikanischen Militärgefängnisses bei Malaga berichtete, erwähnte er, wie oft er an Svea gedacht hatte, wie er sie vermisste und davon träumte, sie wohlbehalten wiederzusehen.

      Die Fahrt in Wolles Bulli ging zügig voran, ohne dass uns der Bus seine treuen Dienste versagte. Auf dem Dachgepäckträger hatten wir Johns große Metallbox mit all seiner persönlichen Habe festgezurrt. Mehr als hundertzehn Stundenkilometer konnten wir sowieso nicht fahren.

      Marrakesch liegt im Süd-Westen Marokkos und wird von den Einheimischen mit Stolz als die „Perle des Südens“ bezeichnet. Wir spürten jetzt äußerst angenehm „den Atem des Südens“, die afrikanische Sphäre. Doch unsere Gedanken drehten sich in aller Kühle um die vor uns liegende Befreiung von Svea – aus wessen Armen auch immer.

      Während der Fahrt las ich John, Wolle und Gerd aus einer Touristenzeitung vor. Aber nach einer Weile winkte Gerd ab: „Das kennen wir doch alles schon, dass Marrakeschs Stadtgeschichte bis ins 12. Jh. zurückgeht, und dass sie als ehemalige Königsstadt einen prächtigen Palast aus dem 17. Jahrhundert hat, den sich jeder Tourist unbedingt anschauen muss, ebenso wie das Herz der Altstadt, die Medina, und so weiter.“

      Uns hatte damals als Teenies, als wir das erste Mal den Hippie-Trail ins außereuropäische Ausland unternahmen, stets die Altstadt mit den unzähligen Souks und seinem Pulsgeber, dem Djemaa el Fna-Platz, fasziniert. Dort hatten wir junge Araber, wie Nine, getroffen, den marokkanischen Jungen mit den neun Fingern. Er war für Alles zu gebrauchen, aber zu nichts wirklich Gutem in der Lage. Er war ein Opfer der Umstände, wie wir es so schön, vermeintlich wertneutral, beurteilten.

      Die Umstände, das waren die verführerischen Hippie-Mädchen in ihren kurzen Röcken und freizügigen Blusen, wir Hippie-Jungs mit unserem lockeren Gehabe und den wilden Wuschelhaaren und den vielen Kettchen um Hals und Handgelenke. Die öffentliche Knutscherei. Die vielen Fremdwährungen und überhaupt das viele Geld, das plötzlich die mittelalterlichen Gassen flutete. Das viele Geld kam mit dem Rauschgift, und das Rauschgift kam zum Geld.

      Hier also, auf dem Djemaa el Fna erreichten wir nun unser erstes Ziel, hier, wo im Mittelalter die abgeschlagenen Köpfe aufgespießt und zur Schau gestellt worden waren.

      Köpfe rollten heute nicht mehr, dafür ging es aber – wollte man den Überlieferungen glauben – wie in uralten Zeiten zu: vor allem laut, bunt und schrill. Nachmittags füllte sich der Platz mit Gauklern, Vorlesern, Feuerschluckern, seltsamen Verkaufsständen, Akrobaten und Schlangenbeschwörern. Es wirkte wie eine Szene aus einer anderen Zeit.

      Als wir um sieben Uhr abends im Hotel Marseille eintrafen, kam Stella auf uns zu, umarmte uns und schluchzte: „Svea ist hier vor drei Tagen aufgetaucht, aber sie hat uns zum Narren gehalten und ist wieder spurlos verschwunden, als sie erfuhr, dass du kommst.“

      „Es war nicht besonders klug, ihr von unserer Ankunft zu berichten“, sagte ich. „Hattest du etwas von John zu ihr gesagt?“

      „Ich dachte, sie wäre froh, dich wiederzusehen. Du hast ihr immer etwas bedeutet. Von John wusste ich ja noch nichts.“ Dann fügte sie hinzu: „Sie war in Begleitung von zwei jungen Marokkanern in westlicher Kleidung. Die verschwanden dann aber wieder.“

      „Und Sören?“, fragte ich. Sören – ebenso dänischer Herkunft wie Svea – war Sveas bisheriger ständiger Begleiter gewesen, kein Partner im sexuellen Sinn, mehr ein Beschaffungsfreund, einer, der alle Drogen für Svea kritiklos beschaffte, egal was sie wollte. Ich war mir sicher, dass er ein Dealer war, der an Svea mitverdiente. Ob er sie wirklich nicht bumste, wenn sie berauscht war, konnte ich natürlich nicht ausschließen. Jedenfalls war Svea im Spätsommer des letzten Jahres vor der geplanten gemeinsamen Abreise mit Sören getürmt, oder er mit ihr. Wir wussten es nicht. Gegenüber John hielt ich in dieser Hinsicht meinen Mund und sagte nur, dass Sören ein guter Landsmann von Svea sei.

      „Sören