Der Wurbelschnurps. Nadja Hummes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadja Hummes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741805110
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Finella gedankenverloren. „Sag mal, dieser gelbe Weg. Wie ist das möglich? Die Sonne Amarythiens scheint doch über ganz Amarythien? Und wenn wirklich sie das Gelb verursachen würde, zum Beispiel durch ihre Strahlen, wieso ist es dann nicht überall gelb?“

      Der Wurbelschnurps antwortete nicht. Stattdessen ertönten gleichmäßige Atemgeräusche. Laut, tief und regelmäßig.

      Finella sann noch eine geraume Zeit über Amarythien nach, – ehe auch sie endlich einschlief.

      Opa Hauke

      Finella kaute auf ihrem Frühstücksbrot herum. In einer halben Stunde würde der Schulbus losfahren.

      Am liebsten wäre sie heute Morgen einfach in den Federn liegen geblieben. Lange ausschlafen, sich behaglich in der warmen Bettdecke „herumlümmeln“, wie Mama es immer auszudrücken pflegte, und den Tag in aller Ruhe mit einer warmen Tasse Kakao beginnen – herrlich.

      Stattdessen klingelte in aller Frühe der Wecker.

      Ihr Ausflug nach Amarythien lag schon ein paar Tage zurück. Längst war die Erkältung ausgeheilt. Kaum dass sie wieder auf den Beinen war, stapelten sich auch schon die Forderungen der Lehrer: „Du musst den Unterrichtsstoff pauken!“ und „Nächste Woche schreiben wir eine Klassenarbeit!“

      Seit zwei Wochen ging das nun schon so.

      Damit nicht genug, hörte sie von Mama dasselbe. Fi­nel­la fiel beim besten Willen nicht ein, wie sie den leidigen Stress der doofen Klassenarbeit umgehen sollte. Man kann ja schließlich nicht immer krank sein. Kein Arzt würde ihr ein Attest ausstellen:

       „Finella kann in der kommenden Woche an keiner Klassenarbeit teilnehmen. An diversen Vokabeltesten und so weiter übrigens auch nicht. Gezeichnet Doktor Soundso.“

      Hm. Außerdem kam es ihr ohnehin nicht besonders klug vor, sich vor alledem zu drücken. Hm, hm und nochmal hm.

      Finella mümmelte an einem Apfelstück. Jetzt hätte sie gerne den Wurbelschnurps dazu befragt, doch der hatte sich seit drei Tagen nicht mehr blicken lassen.

      „Ich muss zum alten Dorjas. In ein paar Tagen bin ich wieder bei dir“, hatte er gesagt.

      In ein paar Tagen. Was heißt hier in ein paar Tagen? Geht es nicht etwas genauer? Schließlich sind hier ganz wichtige Sachen zu lösen. Klassenarbeiten zum Beispiel.

      „Finella! Der Bus kommt gleich! Schwing die Hufe!“

      Die Stimme ihrer Mutter durchdrang sämtliche Räume.

      „Jahaaaaaaaaaaa!“ rief Finella in selbiger Lautstärke zurück.

      Gleich darauf fiel die Tür mit einem lauten Rumms hinter ihr zu, während sie mit geschultertem Rucksack bereits zur Bushaltestelle rannte.

      In der Schule lief es wie üblich. Schulfach um Schulfach reihte sich aneinander. Diverse Cliquen und einzelne Schüler standen in der Pause auf dem Schulhof herum. Finella gehörte seit einiger Zeit zu denjenigen, die einzeln verstreut standen. Seit ziemlich genau zwei Wochen. Seit sie angefangen hatte, weniger gräuliche Ausdrücke zu gebrauchen. Seit sie es ihren Mitschülern sagte, wenn sie deren Ausdrucksweise nicht mochte.

      In den ersten zwei, drei Tagen war ihre sanfte Beharrlichkeit für ihre Mitschüler lediglich ein Anlass allgemeiner Verwunderung oder Belustigung gewesen. Doch schon bald wurde es der Aufhänger für Ausgrenzung, offene Lästereien sowie auch Hetzreden hinter ihrem Rücken. Mit jedem Tag waren die Anfeindungen massiver geworden.

      Die Erinnerung an vergangene Ereignisse stieg in ihr auf. Ereignisse aus dem vorherigen Schuljahr. Fotos von ihr waren verändert worden. Ihr Gesicht prangte plötzlich auf viel älteren Frauenkörpern. Oder sie hing blutverschmiert an einer Straßenlaterne oder lag vergammelt in stinkenden Mülltonnen. Und dann gab es da noch die Fotos, auf denen Finella nur Unterwäsche trug. Steffi hatte Finella in der Umkleide geknipst. Vor dem Sportunterricht. Das hatte Steffi später zugegeben. Sie hatte so getan, als ob sie Selfies von sich schießen würde. Tatsächlich war sie dabei immer näher an Finella herangerückt und hatte sie beim Umziehen fotografiert, ohne dass Finella es bemerkt hätte. Murat und Tom hatten einige der Fotos am Computer verändert. Allerdings hatten sie das wohl nicht alleine bewerkstelligt. So hieß es jedenfalls. Ein paar der Fotos hatten sie weitestgehend unbearbeitet gelassen. Auf denen war lediglich der Hintergrund verändert worden. Doch das reichte schon.

      Finella in Unterwäsche an der Bushaltestelle. Finella in Unterwäsche in den Armen eines Typen. Finella in Unterwäsche auf einem Zeitungscover. Und so weiter. Alle hatten sie diese Fotos auf ihren Mobiltelefonen gehabt. Und auf ihren Rechnern. Und auf ihren Tablets. Und viele hatten sie gepostet, geteilt und kommentiert. Die besonders Witzigen hatten die Fotos noch weiter bearbeitet und Videos daraus gebastelt.

      Finella schüttelte sich. Sie hätte kaum in Worte fassen können, wie all das sich angefühlt hatte.

      Mobbing nennt man das, hatten sie im Lehrerzimmer gesagt. „Meinetwegen können sie es nennen, wie sie wollen. Das ändert nichts.“ dachte sie bei sich. Die betont einfühlsamen Gesprächsangebote der Lehrer und des eingeladenen Kinder- und Jugendpsychologen gaben ihr ebensowenig wie die diversen ihr empfohlenen „Mach dich stark gegen Mobbing“-Portale im Internet. All das hatte nichts mit ihrem wirklichen Leben zu tun. Niemand kam und sperrte die Schule mit einem Zahlencode zu, so dass nur die erträglichen Schüler hineinkamen und die Bescheuerten somit draußen blieben. Das hätte Finella mal eine verlockende Idee gefunden. Zumindest kurzzeitig. Aber nein, – sie musste immer wieder in dieselbe Klasse. Jede Woche.

      Also hatte Finella die Idee an eine selektierte und auf sie maßgeschneiderte Klassengemeinschaft sehr bald ad acta gelegt und in ihrem Innern beschlossen, dass sie sich in keiner Weise unterkriegen lassen würde. Weder von ihren Mitschülern noch von der Mobbinggeschichte. Mit dieser ihr eigenen inneren Haltung hatte sie fortan das Schulgebäude betreten. Vielleicht nicht ständig in superguter Verfassung – wie sie am jeweiligen Tag so drauf war, hing nämlich von mehreren Faktoren ab –, jedoch immer mit jener inneren Haltung.

      Die Lehrer und der Schulpsychologe hatten sie und ihre Eltern zu Finellas Einstellung und Vorgehensweise beglückwünscht und respektiert, dass sie keine weiteren Gespräche wollte. Sie hatte den Erwachsenen gesagt, dass sie ja ohnehin selber da durch müsse und da könne sie das auch gleich direkt so machen. Außerdem, so hatte Finella den Erwachsenen erklärt, wisse sie dann umso besser, was wirklich aus ihr selber komme und dass das ungemein hilfreich sei. Für sie persönlich sehr viel hilfreicher als dieser ganze andere Kram drumherum. Der Schulpsychologe hatte gesagt, das Finella eine positive Einstellung hege, ein verhältnismäßiges, gesundes Zutrauen zu sich selber habe, – in einem realistischen Maße, ohne dem Fallstrick der Selbstüberschätzung zu erliegen – und ihre Eltern beglückwünscht. Sowohl zu ihrer erfolgreichen Erziehung als auch zu ihrer ungewöhnlichen Tochter. Mama und Papa hatten komische glänzende Augen bekommen, die Glückwünsche entgegen genommen und Finella gesagt, dass sie stolz auf sie und immer für sie da seien. Das hatte sich gut angefühlt und Finella wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war.

      Wieso genau ihre Eltern stolz auf sie waren, hatte sie allerdings nicht so ganz verstehen können. Schließlich hatte sie einfach nur eine logische Schlussfolgerung geäußert. Davon einmal abgesehen: Wöchentliche Extrastunden! Das fehlte gerade noch! Sie hatte nun wirklich genug mit dem Unterricht, den anschließenden Hausaufgaben und der elenden Stoffbüffelei vor der jeweils nächsten Klassenarbeit zu tun. Mal muss der Mensch auch Freizeit haben.

      Der Schulgong läutete und riss Finella aus ihren Gedanken. Der Unterricht wurde fortgesetzt. Martina notierte sich erste Stichpunkte.

      Martina war diejenige, die im Klassenzimmer auf dem Stuhl neben ihr saß. Im Unterricht fast immer engagiert, im Umgang mit ihren Mitschülern eher still und zurückhaltend. Was nicht bedeutete, dass sie den Schnabel nicht aufmachen konnte.

      Martina war eine der Wenigen gewesen, die sämtliche ihr zugesandten Fotos und Postings gelöscht hatte, sobald sie welche zugeschickt bekam. Sie hatte zwar nicht an die große Glocke gehängt, von wem sie die Bilder, Videos und Kommentare kamen,