Der Wurbelschnurps. Nadja Hummes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadja Hummes
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741805110
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wusste genau, dass es an ihr lag. Zwar ratterte sie in ihren Gedanken sämtliche „Der ist total blöd! Der ist gemein! Der hat keine Ahnung! Der ist schuld! Ich bin nur deswegen so ausfallend geworden, weil er…!“ und weitere Sätze dieser Art herunter. Sie wusste jedoch, dass sie Unrecht hatte.

      Das wusste sie ganz genau. Es wäre ihr nicht einmal schwer gefallen, es zuzugeben. So etwas hatten Mama und Papa ihr zum Glück schon vor langer Zeit beigebracht. Nein, das war es nicht. Was sie schmerzte, zutiefst schmerzte, war ihre eigene Dummheit und das Wissen um ihre gelegentliche Faulheit. Nicht zuletzt auch die Momente, in denen sowohl ihre Bildungslücken als auch ihre Faulheit offenkundig zu Tage traten. Summa summarum taten ihr also sage und schreibe drei Faktoren auf einmal weh. Finella seufzte über ihr eigenes Elend. Was für eine schrecklich missliche Lage. Was für ein bedauernswerter Zustand. Welch ein Weltschmerz.

      Vorsichtig guckte Finella zur Seite, las im Gesicht ihres Wurbelschnurpses. Nein, er bemitleidete sie nicht. Ganz eindeutig. Sie seufzte lauter. Sie stöhnte jammervoll. Der Wurbelschnurps verzog keine Miene.

      Weiterhin liefen sie schweigend nebeneinander her.

      Na bitteschön. Wenn der Wurbeschnurps bockig sein wollte, das konnte sie auch. Er würde schon sehen, was er davon hat. Ha.

      Und noch immer liefen sie schweigend nebeneinander her.

      Es dauerte eine Weile, bis Finella erneut einen Blick zur Seite wagte. So bockig sah der Wurbelschnurps gar nicht aus. Oder?

      Vorsichtig schaute sie ein zweites Mal zur Seite. Und ein drittes Mal. Nur, um sich zu vergewissern.

      Nein. Der Wurbelschnurps sah tatsächlich nicht besonders bockig aus. Höchstens ein ganz klein wenig. Genau genommen fand sie, so sehr sie auch suchte, nur eine sehr geringe Spur von Bockigkeit in seinem Gesicht. Verschwindend gering.

      Wieder seufzte Finella. Dieses Mal allerdings nicht über ihren Weltschmerz, sondern weil der Schmerz, den sie ihm durch ihr Verhalten zugefügt hatte, jetzt auf sie selber überging. Und dieser Schmerz tat noch viel mehr weh als jener zuvor.

      Finella sah ein, dass der Wurbelschnurps nichts für ihre Unzulänglichkeiten konnte. Klein und tapfer lief er wuseligen Schrittes den Weg zum alten Dorjas hinauf. Obwohl ihr Verhalten ihn schmerzte. Obwohl auch er einfach hätte stehenbleiben und sich verweigern können. Allein, – er tat es nicht. Finella bewunderte ihn dafür. Sie wollte das auch können.

      Sie wusste, der Wurbelschnurps würde dem alten Dorjas freudig, höflich und aufmerksam gegenübertreten. Sie kannte den Wurbelschnurps. Sie wusste, er würde weder seinen Gram noch seinen Unbill an dem alten Dorjas auslassen. Auch dafür bewunderte sie ihn ein wenig. Auch das wollte sie gerne können.

      Wie oft hatte sie nach der Schule einfach ihren Rucksack in die Ecke geschmissen und Mama oder Papa angeblafft. Je nachdem, wer gerade zuhause war. Wie oft war sie selbst Zielscheibe und Sündenbock für die Launen ihrer Mitschüler.

      So wollte sie nicht werden. Das wusste sie ganz genau.

      Aus diesem Grund hatte sie schon ganz früh beschlossen, dass sie selbst es anders machen würde. Bloß wie? Da gab es noch so viel zu lernen.

      Finella kaute auf ihrer Unterlippe herum. Sie wollte lernen.

      Sie wusste, sie musste sich überwinden. Vermutlich sogar mehrmals. Nicht bloß dieses Mal. Nicht nur einmal, sondern öfter. Warum und wieso, hätte sie nicht genau in Worte fassen können. Sie wusste nur, dass sie sich überwinden musste. Immer wieder, bis sie genug Übung darin hatte. Bis es nicht mehr weh tat. Bis sie vielleicht sogar ihre eigene Unperfektheit mit einem frohen Herzen betrachten konnte, – ohne jemals des Lernens überdrüssig zu werden.

      Solche und ähnliche Gedanken kamen Finella in den Sinn und sickerten direkt im Anschluss daran in ihr Herz. Dort sammelten sie sich, wurden sie zu einem Gefühl und… Ja. Dieses Gefühl fühlte sich gut an.

      Sehr gut sogar.

      Anstrengend auch. Ja, vielleicht. Ein bisschen.

      Na und? Sie wusste, es würde sich lohnen. Das spürte Finella ganz genau.

      Ja, es blieb dabei: Dieses Gefühl fühlte sich gut an.

      Sie räusperte sich.

      Jetzt und hier galt es, eine Hürde zu nehmen.

      Sie blieb stehen und hielt inne.

      „Wenigstens einen Moment“, sagte sie in das Schweigen hinein.

      Noch bevor sie ausgesprochen hatte, hielt der Wurbelschnurps an.

      Sie bemerkte es, staunte ein wenig und schüttelte gerührt ihren Kopf.

      Finella atmete durch, trat ein paar Schritte an den Wurbelschnurps heran und sagte:

      „Danke. Und Entschuldigung. Das war blöd von mir.“

      „Jep.“

      „Jetzt reite nicht auch noch darauf herum.“

      „Och menno“, sagte der Wurbelschnurps und wischte eines seiner Vorderbeine kurz durch die Luft. „Schade. Na gut.“

      Finella starrte ihn fassungslos an. Er blinzelte ihr zu.

      Von jetzt auf gleich schoss ein brüllendes Lachen aus ihr heraus. Dem Wurbelschnurps erging es kaum anders. Er lachte und keuchte und lachte und keuchte. Immer wieder schnappte er nach Luft, während das Lachen seinen kleinen Körper regelrecht durchschüttelte. Finella wollte ihn beruhigend tätscheln, konnte sich jedoch vor Lachen kaum mehr einkriegen und stütze sich schließlich vorne übergebeugt auf ihren Knien ab.

      Nachdem sie sich wieder beruhigt hatten, standen sie da, schauten zu den Federkristallweißen herüber und schwiegen. Dieses Mal hingegen einträchtig miteinander und äußerst glücklich.

      „Wunderschön. Nicht wahr?“ ergriff der Wurbelschnurps schließlich wieder das Wort, während sie noch immer die Federkristallweißen betrachteten.

      „Mm“, machte Finella.

      „Wir müssen weiter, Finella“, mahnte er vorsichtig. „Es ist schon spät. Wir sollten beim alten Dorjas ankommen, bevor es Abend wird.“

      „Aber es ist doch noch ein Weilchen hell?“ fragte Finella, während sie ohne Murren ihr Tempo wieder aufnahm.

      „Ja, schon. Aber nicht so lange wie im Tal oder am Fuße des Berges.“

      „Aha? Wieso?“

      „Das ist doch logisch, Finella. Stelle Dir eine eingeschaltete Lampe vor.“

      „Ja. Ok.“

      „Jetzt stelle dir einen großen, breiten, hohen Schrank vor.“

      „Ok.“

      „Was passiert, wenn du den Schrank vor die Lampe schiebst?“

      „Er ist dem Licht im Weg.“

      „Siehst du?“

      „Aber natürlich!“ Finella patschte sich an den Kopf. „Stimmt, das ist logisch!“

      „Jetzt gehe in Gedanken einmal einen Schritt zur Seite und stelle dich neben den Schrank.“

      „Ok.“

      „Was ist das Ergebnis?“

      „Das Licht der Lampe verteilt sich anders. Ich kann mehr Licht sehen. Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke… im ganzen Raum halt.“

      „So ist es.“

      „Ich verstehe.“

      „Großartig“, sagte der Wurbelschnurps erfreut. „So schwer ist es ja auch gar nicht.“

      „Sag mal, Wurbelschnurps, wonach richtet sich eigentlich eure Zeitmessung? Ich habe dich noch nie mit einer Uhr gesehen.“

      „Das mag wohl daran liegen, dass es in Amarythien keine Uhren gibt. Unsere Zeitmessung richtet sich nach dem Tageslicht und nach den Temperaturunterschieden.“