„Wundervoll“, bestätigte Dorjas. „Es ist wundervoll.“
„Und weshalb gehst du nicht dorthin?“ fragte Finella, an den alten Dorjas gewandt. „Sind die gefährlich?“
„Ja und nein. Im Grunde sind es äußerst sanfte Wesen. Wenn sie sich allerdings gestört oder bedroht fühlen, dann werden sie gefährlich. Gefährlich für den Störenfried oder Angreifer.“
„Aha.“
„Weißt du, ich bin schon einmal auf dem Gipfel dieses Berges gewesen“, erklärte der alte Dorjas ihr und zeigte zum Fenster. „Da habe ich die Mandelas entdeckt. Ich wusste bis zu jenem Zeitpunkt nicht einmal, dass es die Mandelas überhaupt gibt. Ich stieg damals auf den Gipfel des Berges, um eine Pflanze zu holen. Für einen Heiltee. Borsa und Wranstos hatten mich um Hilfe gebeten, denn einer ihrer Sprösslinge litt an Steinfieber. Eine nervende Krankheit. Wenngleich auch ungefährlich.“
„Du kennst Borsa und Wranstos?“
„Natürlich, Finella. Borsa und Wranstos samt ihren Kindern sind beileibe nicht die einzigen Worgsens, die ich kenne. Viele Amarythier sind meine Freunde. Es sind auch viele Amarythier mit meiner Schwester befreundet. Doch wir kommen vom Thema ab. Wo war ich?“
„Du hattest den Gipfel dieses Berges bestiegen.“
„Ach ja. Ich suchte also auf dem Gipfel dieses Berges nach einer Pflanze für den Heiltee, als ich die Mandelas entdeckte. Sie brüten auf den Gipfeln dieser Bergkette. Drei Eier legt ein Mandela-Weibchen. Einmal im Jahr. Liegen die Eier erst einmal im Nest, wechseln die Mandelas sich ab. Mal wärmt sie die Brut, mal er. Dreihundertundfünfundsechzig Tage dauert es, bis die jungen Mandelas schlüpfen. Ein ganzes Jahr. Manchmal überlebt nur ein Junges. Sobald die jungen Mandelas aus dem Gröbsten heraus sind, fliegen ihre Eltern los und suchen sich gemeinsam einen neuen Nistplatz. Manchmal suchen sie nur wenige Tage, manchmal mehrere Monate. Ist der richtige Platz gefunden, bauen sie dort ein Nest und beginnen wieder zu brüten. Und die jungen Mandelas machen es genauso, sobald sie ihren Partner haben. Mandelas sind wirklich wunderschöne und wahrhaft treue Geschöpfe. Haben sie einander gefunden, so bleiben sie ein Leben lang zusammen. In Treue miteinander verbunden. Treu bis in den Tod.“
„Wie kommt es, dass du so viel über die Mandelas weißt?“ fragte Finella.
„Als ich die Pflanze für den Tee pflücken wollte, warf etwas einen enormen Schatten auf mich. Ich sah auf. Über mir drehte ein großes Mandela-Männchen seine Kreise. Unweit der Stelle, an welcher ich die Pflanze pflückte, saß seine Gefährtin im Nest. Ich bewegte mich langsam. Sehr langsam. Stück für Stück kletterte ich den Gipfel hinunter. Leise sprach ich vor mich hin. Ich erklärte, aus welchem Grund ich auf den Gipfel gestiegen war.“
„Wusstest du denn, ob der Mandela dich versteht?“
„Nein Finella, das wusste ich nicht. Ich hatte Glück. Er hat mich verstanden. Als ich einige Tage später wieder einmal meine Schwester besuchte, berichtete ich ihr davon. Daraufhin hat sie mir von ihnen erzählt. Sie kannte die Mandelas und kennt sie glücklicherweise noch immer.“
„Und was hat der Mandela gemacht?“
„Er hat mir geantwortet, Finella. Weißt du, mit den Ohren hört man nur die Gesänge der Mandelas. Zugegeben, wunderschöne Gesänge. Ganz gewiss. Wenn man die Mandelas darüber hinaus aber versteht, dann ist das ein Geschenk.“
„Aha“, machte Finella.
„Oder eine Gnade“, bemerkte der Wurbelschnurps.
„Aha, aha.“ Finella trat unter dem Tisch von einem Fuß auf den anderen.
Diese Schwärmerei für ominöse Mandelas, von denen sie noch keinen einzigen gesehen hatte, wurde ihr jetzt doch etwas viel. So hörte sie auf, Fragen zu stellen, und wartete ab.
Der Wurbelschnurps kroch wieder in ihren Nacken. Er verstand sie nur allzu gut.
„Finella, sag, möchtest du wirklich mitkommen?“ fragte er sie daher nochmals.
„Ach Wurbelschnurps, du stellst Fragen. Na klar!“
„Gut!“ sagte er hocherfreut.
Der Wurbelschnurps strahlte über sein ganzes Gesicht. Er wuselte aus ihrem Nacken hinauf in ihre Haare, drehte dort eine Runde, wuselte dann wieder in ihren Nacken zurück und balancierte schließlich auf ihren Schultern hin und her. Vergnügt summte er vor sich hin.
„So ist es recht“, sprach der alte Dorjas.
„Weswegen willst du doch gleich deine Schwester besuchen, Dorjas?“ fragte Finella ihn.
„Na, weil ich meine Schwester schon eine Weile nicht mehr gesehen habe. Und weil mir die Lakritzschnecken ausgegangen sind.“
„Lakritzschnecken hätte ich dir mitbringen können. Die gibt es in der Menschenwelt in jedem Supermarkt.“
„Nicht solche, Finella“, wandte der Wurbelschnurps ein.
„Na gut, dann gehen wir eben Lakritzschnecken holen. Wo geht's lang?“
„Zuerst natürlich den Berg wieder hinunter“, erklärte Dorjas. „Dann einen relativ langen Fußmarsch, bis zum Tal der stinkenden Auswürfe.“
„Uäh!“ machte Finella.
„Nachdem wir die speienden Berge passiert haben, müssen wir den Sumpf des Argwohns und der Missgunst durchqueren. Erst dann erreichen wir Grüntal. Das Tal, in dem meine Schwester wohnt“, schloss Dorjas.
„Wie bitte?“ Finella glaubte, sich verhört zu haben.
„Es stimmt“, sagte der Wurbelschnurps. „Wir müssen durch den Sumpf des Argwohns und der Missgunst hindurch. Es gibt keinen anderen Weg. Es sei denn, wir könnten fliegen.“
„Ich kann aber nicht fliegen! Und du auch nicht! Und Dorjas auch nicht!“
„So ist es.“
Finella griff nach dem Wurbelschnurps.
Sie hielt ihn auf Höhe ihrer Nasenspitze direkt vor ihr Gesicht. Eng kniff sie ihre Augenbrauen zusammen.
Sie sahen einander an. Finella kniff ihre Augenbrauen noch enger zusammen.
„Du warst schon einmal dort.“
„Ja. Dorjas' Schwester hatte ihn und mich seinerzeit eingeladen.“
„Du bist also unbeschadet durch das Sumpfgebiet hindurch gekommen und ebenso wohlbehalten wiedergekommen.“
„Ganz offensichtlich.“
„Ha! Und ob ich mitkomme!“
„Meine Finella!“
„Wunderbar“, sagte Dorjas, der sich bis jetzt kommentarlos im Hintergrund gehalten hatte. „Dann kann's ja losgehen. Du darfst stolz auf deine Finella sein, Wurbelschnurps“, stellte er bewogen anerkennend fest. „Sie nimmt Unbequemlichkeiten in Kauf, anstatt wegzulaufen.“
Der Wurbelschnurps glänzte.
„Na, hör' mal!“ Empört funkelte Finella den alten Dorjas an. „Was denkst du von mir?! Außerdem würde Wurbelsschnurps dasselbe für mich tun.“
„Ja, Finella. Das würde er.“ Der alte Dorjas wirkte zufrieden „Es ist gut, dass du das weißt.“ Er erhob sich von seinem Sitzplatz.
Finella stand ebenfalls auf. Der Wurbelschnurps saß nun wieder auf ihrer Schulter.
„Das Eine sage ich euch: Das müssen die weltbesten Lakritzschnecken im gesamten Universum sein!“
„Sind es“, flüsterte der Wurbelschnurps in ihr Ohr.
So leise, dass nur sie ihn hören konnte.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст