Sieben Tage. Patty May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patty May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737542029
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Anne eindeutig in der Hand. Die Rösen war nicht verrückt, die war eiskalt und raffiniert! Mann, die letzten Wochen bis zum Beginn der Sommerferien konnten noch verdammt lang werden.

      Die Klingel kündigte das Pausenende an, und ein Strom lärmender Schüler bahnte sich seinen Weg vom Schulhof in den Gang hinein, um sich sogleich in alle Richtungen zu zerstreuen. Die beiden Mädchen standen mitten im Weg und wurden durch den sich stetig drängenden Pulk getrennt.

      „Ich muss jetzt zu Mathe! Hast du heut Nachmittag Zeit?“

      Anne winkte ihrer Freundin über die Köpfe der an ihr Vorbeieilenden zu, bevor sie es aufgab, gegen die sie vorwärtsschiebende Masse anzukämpfen.

      ***

      Charlotte Ehlers ließ das Fahrrad auf der Hofeinfahrt ausrollen, hievte sich mühsam vom Sattel und schob den Drahtesel zurück in den Schuppen, bevor sie etwas kurzatmig ihr Heim betrat. Kaum fiel die Tür ins Schloss, entledigte sie sich ihrer Kostümjacke, die sie achtlos auf die Kommode warf, und streifte schwerfällig die flachen Pumps von den Füßen, um sie gegen robuste Arbeitsstiefel zu tauschen.

      Es war ein sehr warmer Tag, die Sonne schien hell durch die Fenster herein, trotzdem begann Charlie zu frösteln. Seufzend wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, spürte die Nässe unangenehm kalt auf dem Rücken.

      Zögernd blieb sie im Flur stehen.

      Ach, was soll‘s. Ein Schnäpschen wird mir nicht schaden.

      Behände nahm sie den Apfelbrand und ein kleines Gläschen aus dem oberen Schrank der Anrichte. Als der Alkohol ihr die Kehle herunterrann, trat sogleich das gewünschte wohlige Gefühl ein. Meine Güte, tat das gut!

      Für einen Augenblick schloss sie die Augen und genoss die Wärme, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete.

      Die Anrichte schmückte ein kleiner Spiegel, und Charlie betrachtete sich selbstvergessen. Über ihre einst so strahlend blauen Augen hatte sich im Alter ein grauer Schleier gelegt, das Gesicht, von Wind und Sonne gegerbt, war schmal und hager geworden. Feine Fältchen durchzogen die Haut, an Stirn und Mundwinkeln hatten sie sich tief eingegraben und verliehen Charlotte ein strenges, fast verbittertes Aussehen. Bald wurde sie fünfundsechzig.

      „Du bist alt geworden“, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu.

      Eine Strähne hing widerspenstig über dem Ohr herab, und Charlotte steckte sie fest. In ihrer Jugend hatte sie wunderschönes Haar gehabt, hellblond mit langen weichen Wellen, die Freundinnen hatten sie immer darum beneidet. Nun war es dünn und spröde, zu einem Knoten im Nacken gesteckt, von unbestimmbarer Farbe und durchzogen mit grauen Strähnen.

      Als ihr bewusst wurde, dass sie immer noch die Flasche und das Glas in den Händen hielt, schenkte Charlotte sich noch einen Schnaps nach und stürzte ihn in einem Zug hinunter.

      „Wirklich gutes Zeug“, flüsterte sie zufrieden und beförderte den Apfelbrand an seinen Platz zurück.

      Nicht dass sie sonst Alkohol trank, aber dieser Tag war auch nicht wie jeder andere. Er gehörte mit zu den schlimmeren Tagen in ihrem Leben, und davon hatte es wirklich reichlich gegeben, eigentlich mehr als ein Mensch allein verkraften konnte. Immerhin hatte sie diesmal ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, heute war es nicht unerwartet und unvorhersehbar über sie hereingebrochen.

      Nein, sie hatte eine Entscheidung getroffen!

      Eine, die ihr nicht gefiel, die sie zutiefst schmerzte, aber es war ein richtiger und notwendiger Entschluss gewesen.

      Es war Mittagszeit, und sie musste den Arbeitern das Essen bereiten, doch vorher wollte sie noch eben auf ihrem Hof nach dem Rechten sehen. Durch den Vorratslagerraum und die dahinter befindliche Nebentür stapfte Charlotte in den Garten hinaus. Dieser lag etwas höher als das angrenzende Obstgebiet und bot einen wunderbaren Blick über das Land.

      Die Apfelblüte neigte sich langsam dem Ende zu, und da es kaum Nachtfröste gegeben hatte, würde sie voraussichtlich in diesem Jahr eine gute Ernte einfahren. Ihre letzte Ernte!

      In einem halben Jahr würde ihr dieses Land nicht mehr gehören, das Land, das seit sechs Generationen von ihrer Familie bewirtschaftet wurde, jeweils an den ältesten Sohn vererbt, das zwei Kriege und mehrere Sturmfluten überstanden hatte. Als bei der großen Flut damals die Deiche brachen, war sie gerade mal fünfzehn Jahre alt gewesen, und diese Katastrophe hätte ihre Familie fast das Leben gekostet.

      Nie wieder hatte sie seitdem so ein gewaltiges Ausmaß an Zerstörung erlebt, aber das Land hatte sich davon erholt. Ihr Vater steckte all seine Kraft in den Hof, gab sein ganzes Wissen und die jahrelangen Erfahrungen an sie weiter, und sie hatte später seine Arbeit fortgeführt.

      Das war immer ihr Lebensinhalt gewesen!

      Mit diesem Land war sie auf ewig und auf eine ganz besondere Weise verbunden.

      Gut, dass ihr Vater das nicht mehr erleben musste!

      „Charlie, geht es dir nicht gut?“

      Unbemerkt war Pavel, ihr polnischer Vorarbeiter, an sie herangetreten.

      „Geht schon. Ich hab es jetzt endlich hinter mich gebracht!“

      „Alles geklappt, so wie du wolltest?“

      „Ja, die Papiere sind unterschrieben. Ende Oktober ist Schluss für uns! Die Schlepper und Pflückwagen bringt Helge nach der Ernte selber wieder in Schuss, ich brauch mich also später nicht mehr um die Maschinen zu kümmern.“

      „Du hast Köpkes Sohn wirklich dein Hof verkauft? Es steht mir nicht zu, Charlie, aber vielleicht hätte anderer Bauer dir besseren Preis gegeben?“

      Schon möglich. Aber sie wollte den Hof in guten Händen wissen! Wenn sie schon verkaufen musste, dann doch lieber an die Familie eines Freundes als an Fremde. Außerdem war es praktisch, da Köpkes Grundstück an das ihre grenzte.

      Sorgenvoll schaute Pavel sie an.

      „Was willst du später machen, Charlie?“

      „Meine wohlverdiente Rente genießen! Ausschlafen. Was weiß ich? Was alle Rentner so machen! Kaffeefahrten?“

      Pavel lachte schallend los.

      „Du und Kaffeefahrten? Das will ich sehen mit meine eigene Auge!“

      Er hatte ja recht! Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, was sie mit so viel freier Zeit anstellen sollte! Noch hatte sie ihren geregelten Tagesablauf. Es gab immer Arbeit auf dem Hof, sieben Tage in der Woche, einzig im Dezember herrschte Arbeitsruhe. So war sie es ihr ganzes Leben lang gewohnt! Freizeit? Darüber musste sie erst noch nachdenken.

      Pavel sorgte sich wirklich rührend, er wollte wissen, ob sie zurechtkommen würde. Warum sollte sie das nicht?

      Irgendwie würde sie schon über die Runden kommen.

      Charlotte hatte ihr Haus! Was brauchte sie mehr?

      „Du solltest nicht allein sein!“, warf er ein.

      „Ach, ich bin nicht allein! Aber du, du wirst mir fehlen!“

      „Weil du keinen hast, den du dann rumkommandieren kannst!“

      Sie stimmte in sein Gelächter ein, Pavels Fröhlichkeit war ansteckend. Sein Abschied würde ihr schwer fallen. Pavel war immer da, wenn sie Hilfe brauchte, und er verstand etwas von seinem Fach. Wie viele Nächte hatten sie sich gemeinsam mit dem Spritzen oder Beregnen der Obstbäume um die Ohren geschlagen? Bei Hagelschlag oder Wanzenbefall der Bäume bangte er genauso wie sie um den Ertrag. Im Laufe der Jahre hatte er sich ihr Vertrauen redlich verdient.

      Nachdenklich schaute Charlotte ihren Mitarbeiter an, sie beide kannten sich schon so lange, dass er fast zur Familie gehörte, und er war eine liebe und treue Seele. Also warum sollte sie nicht wenigstens etwas für ihn tun können?

      „Pavel, ich kann bei Helge ein gutes Wort für dich einlegen, bestimmt würde er dich gern übernehmen.“

      „Oh, Charlie. Ich immer arbeite gern für