Sieben Tage. Patty May. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patty May
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737542029
Скачать книгу
Ruhe im Klassenraum herrschte. Sie schrieben ihre letzte Fachklausur, Annes Leistungen in Englisch waren schwach und diese Arbeit ausschlaggebend für ihre Gesamtnote.

      Grübelnd, das Kinn in die Hand gestützt, las sie den Text. Der erste Abschnitt mit dem Vokabeltest war ihr leicht gefallen. Der zweite jedoch bereitete ihr größte Probleme, und gerade für dessen Übersetzung gab es die meisten Punkte.

      Punkte, die sie unbedingt für die bessere Zensur brauchte! Schweißtropfen rannen ihr über Stirn und Rücken hinab.

      Insgeheim verwünschte sie die Lehrerin, suchte erschöpft nach brauchbaren Informationen, doch ihr Kopf fühlte sich leer an, kein verstecktes Wissen, das sie retten konnte!

      Verzweifelt hatte sie diesen Text Wort für Wort übersetzt, aber es ergab einfach keinen Sinn! Dabei hatte sie sich das ganze Wochenende auf den verfluchten Test vorbereitet, aber was nutzten ihr nun all die sinnlos gepaukten Vokabeln?

      Nein, Fremdsprachen waren ganz und gar nicht ihr Ding!

      Zaghaft hob Anne den Kopf und schaute ratlos nach vorn.

      Frau Rösen saß auf der Kante ihres Schreibtisches, die Arme vor der Brust verschränkt, blickte sie in den Hof hinaus. Von kleiner elfenhaft zarter Statur wirkte sie kaum älter als ihre Schüler, ein Umstand, den sie mit ihrem äußerst ausgefallenen Kleiderstil und einer Vorliebe für kräftige Farben ausglich, was an der Schule schon legendär war. Es schien die Rösen nicht im Geringsten zu interessieren, was Kollegen oder Pennäler über sie dachten oder ob die blaue Bluse gerade zu ihrem irisch roten Haar passte. Sie hatte Temperament und war für ihre Strenge bekannt, deshalb hätte kein Schüler es je gewagt, in ihrer Gegenwart Witze darüber zu machen, selbst die Hartgesottensten der Halbwüchsigen schien sie eher zu verschrecken als zu belustigen. Unauffällig beobachtete Anne die Pädagogin, und als die ihren verträumten, abwesenden Blick beibehielt, schielte sie aus den Augenwinkeln auf den Zettel von Alexander, der seit dem Halbjahr ihr neuer Banknachbar war. Die geänderte Sitzordnung sollte das Schwatzen in der Klasse unterbinden, was Alex nun nicht länger daran hinderte, regelmäßig sein kleines Nickerchen im Unterricht einzulegen.

      Mann, musste der immer so krakeln? Angestrengt kniff Anne die Augen zusammen, um aus Alex‘ Gekritzel schlau zu werden, aber als sie die Worte endlich entziffern konnte, begriff sie sofort, dass seine Übersetzung sogar noch bescheuerter als ihre eigene war. Was hatte sie denn auch erwartet?

      Alex war noch nie ne Leuchte gewesen! Verdammt!

      Ihre Mutter würde sie umbringen, sollte sie diese Arbeit in den Sand setzen. Die Stunde näherte sich unerbittlich dem Ende, und panisch überflog Anne zum wiederholten Male ihre stümperhafte Arbeit. Es blieb ein einziges Kauderwelsch!

      Wieso musste ein und dasselbe Wort auch verschiedene Bedeutungen haben? Das konnte doch keiner verstehen!

      Sie brauchte nur ein klein wenig Hilfe.

      Ihr Blick flog zu Jasmin hinüber, Anne zischte leise deren Namen, erleichtert, dass diese sofort begriff und ihr Blatt zur Tischkante schob. Beginnende Unruhe machte sich in der Klasse bemerkbar, während Frau Rösen nun in Zeitlupe zwischen den Tischreihen entlangschlenderte. Als sie Annes Platz passierte und sich mit einer Schülerin unterhielt, ergriff sie ihre Chance. Anne beugte sich zu Jasmins Bank hinüber, überflog deren Zeilen, korrigierte hastig, indem sie strich und die neuen Sätze kurzerhand darüber schrieb. Eine schlechte Note auf Form und Schrift war jetzt ihre geringste Sorge. Abermals linste sie auf Jasmins Blatt und spürte eine Bewegung. Anne schrak zusammen, mit hochrotem Kopf fuhr sie herum, doch die Rösen stand bereits direkt hinter ihrer Bank und musterte sie aus blitzenden Augen.

      ***

      Reglos stand die ältere Frau in dem schummrigen Flur ihres Hauses, sie bemerkte nicht, dass sich eine graue Strähne aus dem sonst sorgfältig frisierten Haardutt gelöst hatte und nun widerspenstig über dem Ohr herabhing. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt einzig dem Telefon.

      Nervös zuckte ihr Blick zur Uhr.

      Es war genau zehn, die gewöhnliche Zeit seines Anrufes, doch der Apparat schwieg hartnäckig. Hatte der mysteriöse Fremde etwa aufgegeben? Ausgerechnet an dem Tag, an dem sie hoffte, endlich seine Identität aufzudecken?

      Als die Anrufe vor einigen Wochen begannen, hatte sie an eine harmlose Verwechslung geglaubt und maß dem keinerlei Bedeutung bei. Irgendwer hatte sich verwählt, jedoch ärgerte sie die Unsitte seines Stillschweigens. Eine Entschuldigung wäre immerhin angebracht, sobald man seinen Irrtum bemerkte, was wohl einem Mindestmaß an Höflichkeit entsprochen hätte. Erst als sich der Vorfall wiederholte befürchtete sie, dass sich hier jemand einen bösen und recht geschmacklosen Scherz mit ihr erlaubte, und sie glaubte, je weniger sie darauf reagierte, umso schneller würde dem schon der Spaß vergehen und er sie letztendlich in Ruhe lassen!

      Doch was sie auch tat, der gewünschte Erfolg blieb aus. Jeden Montag um Punkt zehn klingelte das Telefon unaufhörlich, bis sie schließlich den Hörer abnahm. Wer auch immer da anrief, gab sich jedenfalls nicht zu erkennen! Lauschte sie angestrengt, konnte sie seinen leisen Atem wahrnehmen, er selbst gab kein Sterbenswörtchen von sich, bis er nach einigen Sekunden auflegte. Weder üble Beschimpfungen noch Drohungen ihrerseits hatten ihn bisher zum Reden oder gar zum Unterlassen dieser Anrufe bringen können! Aber ein anderer Umstand bereitete ihr weitaus mehr Kopfzerbrechen. Diese Person musste sie sehr gut kennen!

      Doch sie fürchtete sich nicht im Geringsten. Vor niemandem! Falls er also nur vorgehabt hatte, eine alte Dame zu erschrecken, musste ihm inzwischen bewusst sein, dass sein Plan nicht aufging. Trotzdem fand sie es merkwürdig, dass der Unbekannte sie weder bedrohte noch auf andere Weise einzuschüchtern versuchte! Das war kein gewöhnlicher Stalker! Das hier schien etwas völlig anderes zu sein!

      Also warum dann diese ganze Mühe? Was wollte er?

      Das ging ihr einfach nicht aus dem Kopf! Bald kam ihr ein ungeheurer Verdacht, ein Gedanke, der wie ein Samenkorn auf nahrhaften Boden fiel und sie seitdem bis in den Schlaf verfolgte. Was, wenn sie gar nicht zufällig ausgewählt worden wäre? Wenn dieser Anrufer nur nicht redete, weil ihn jedes Mal der Mut verließ? Vielleicht versuchte hier jemand Kontakt aufzunehmen, und sie hatte nun eine Ahnung, wer das sein könnte. Jemand aus ihrer Vergangenheit!

      Wie lange hatte sie auf ein Lebenszeichen von ihm gehofft?

      Von dem Mann, der ihr einst so vertraut gewesen war. Bevor das Schicksal sie so hart für ihren Fehler bestrafte, denn das Geheimnis, das sie teilten, hatte einen anderen das Leben gekostet. Für dieses Vergehen hatten sie beide bitter büßen müssen, seit jener Nacht, die sie so gern aus ihrem Leben löschen würde. Es war so einfach gewesen, ihm die Verantwortung dafür zu geben. Deshalb hatte sie ihn verstoßen und wie einen räudigen Hund vom Hof gejagt.

      Er war nie mehr zurückgekehrt.

      Wusste nichts von der Existenz seiner Tochter, wusste nicht, was sie alles hatte aushalten müssen. Es waren so viele Jahre vergangen, dass es ihr fast schien, als wäre die Begegnung mit ihm in einem anderen Leben gewesen. Wie er jetzt wohl aussah? Ob sie ihn wiedererkennen würde?

      Warum nur schwieg dieses Telefon?

      Fahrig knetete sie die schmerzenden Finger, pumpte das Blut zurück in die steifen, eiskalten Glieder. Es gab nicht viel, was sie sich noch im Leben wünschte oder davon erwartete, aber diesen Anruf sehnte sie mehr als alles andere herbei.

      Gewiss konnte sie nicht ungeschehen machen, was sie damals angerichtet hatte, aber wenn sie es sich schon selbst nicht vergeben konnte, vielleicht konnte er es tun.

      Jede Faser ihres Körpers war bis zum Zerreißen gespannt, die Geräusche ihrer Umgebung nahm sie überdeutlich wahr, sie hörte das leise Knarren des Gebälks und das stete Vorrücken des Sekundenzeigers. Zehn Uhr zwölf!

      Mit zäher Langsamkeit zeigte die Uhr die verstrichenen Minuten an, und obwohl ihr die Beine vom langen Stehen schmerzten, rührte sie sich nicht vom Fleck, weigerte sich entschieden, diesen Platz zu verlassen. Verbissen verharrte sie bereits seit zwanzig Minuten, doch was bedeutete schon diese Zeit gegen achtunddreißig Jahre? Sie würde warten! Zehn Uhr sechzehn. Als das Telefon schrillte und die Stille im Haus