Staub und Regenbogensplitter. Stella Delaney. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stella Delaney
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745044904
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      Bäume treten mir aus dem dichten Weiß entgegen und verschwinden wieder. Sind das dieselben Bäume, oder sind es andere? Wie weit bin ich gegangen? Ich sollte das Dorf längst wieder erreicht haben. Oder nicht?

      Ich laufe weiter. Drehe mich um. Laufe zurück. Stundenlang. Eine Ewigkeit lang. Ich habe jeden Sinn für Zeit oder Richtung verloren.

      Jetzt bloß keine Panik. Ich muss mich konzentrieren. Aber ich kann nicht. Blätterlose Büsche ragen aus dem Boden wie tote Hände. Blasse, kalte Finger drücken gegen meine Augen, in meinen Kopf.

      Da ist der klagende Schrei wieder. Näher als zuvor. So viel näher. Ich drehe mich um mich selbst, starre in die formlose Dichte, die mich umgibt, gehetzt wie ein fliehendes Reh. Wohin?

      Schemen bewegen sich hinter dem Nebel. Gestalten, Körper. Ich höre brechende Zweige, Schnauben. Nur noch einen Herzschlag, bis sich der Nebel teilt. Noch einen Herzschlag, bis die Kreatur direkt vor mir steht. Glühende Augen, struppige Haare, Zähne wie Messer. Noch einen Herzschlag, bis ich den Verstand verliere. Doch ich warte nicht ab. Ich renne.

      Zweige schlagen mir ins Gesicht und treiben mir die Tränen in die Augen. Blinder als blind stolpere ich vorwärts. Nur weg hier. Nur weg.

      Irgendetwas greift nach meinem Bein. Ich verliere den Halt, schwanke, falle, schlage auf dem Boden auf. Das letzte bisschen Luft weicht aus meinen Lungen.

      Dann liege ich auf dem kalten modrigen Boden. Außer Atem, fast taub, fast blind, hilflos. Ich kann förmlich spüren, wie sich der Nebel um mich verdichtet. Leuchtet dort nicht etwas? Rotorange, gefährlich, unnatürlich. Höre ich nicht ein Hecheln, ein Knurren? Es kommt näher. Immer näher.

      Mit letzter Kraft schließe ich die Augen. Ich versuche, dein Gesicht vor mir zu sehen, doch das Bild verschwimmt immer wieder.

      Auf einmal begreife ich, dass ich mehr verlassen habe als nur das Dorf, mehr verloren als nur die Orientierung. Wie konnte ich nur so dumm sein?

      Tödliche Stille umgibt mich. Sollte ich beten? Um Gnade flehen? Ich weiß nicht einmal, wie. Oder zu wem.

      Wenn es dich gibt, lass mich nicht so sterben.

      Und plötzlich höre ich etwas. Ungläubig und benommen richte ich mich auf und lausche in den Nebel. Für einen Moment ist da nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und ich habe Angst, endgültig den Verstand zu verlieren. Aber dann –

      Ich kämpfe mich zurück auf die Füße, laufe, stolpere vorwärts.

      Da! Da ist es wieder. Ein feines, melodisches Klingen.

      Der alte Baum in der Nähe des Dorfes. Die Bewohner halten ihn für heilig und schmücken ihn mit bunten Bändern und kleinen Metallstückchen, die sich beim geringsten Lufthauch bewegen und gegeneinander schlagen. Wie Glöckchen.

      Ich strauchele, fange mich auf und schleppe mich weiter. Nebel, nichts als Nebel, und für einen Moment scheint der zarte Klang zu verstummen, als habe er nie existiert. Ich fühle mich wie in einem Fiebertraum.

      Doch dann teilt sich der Schleier. Vor mir erhebt sich der alte Baum mit all seinen Verzierungen. Und zu seinen Füssen steht jemand in einem langen Umhang, klein und zerbrechlich gegen den riesigen Stamm.

      Die Gestalt dreht sich um, und ich sehe in diese unglaublich blauen Augen, die mich immer an einen perfekten Sommerhimmel erinnern. Nichts kann ihr Leuchten dämpfen, nicht einmal der Sog dieses überirdischen Nebels, der jedes Licht und jede Farbe zu verschlingen scheint.

      Da bist du ja, scheint dein Lächeln zu sagen. Und nicht zum ersten Mal frage ich mich, wer hier wen gesucht und gefunden hat. Ich dich, du mich, oder wir uns?

      Jetzt, da die Strahlen der Herbstsonne den grauen Schleier durchstoßen und schließlich vollkommen zerreißen, ist es so leicht, das Erlebte zu verdrängen. Es war nur eine Geschichte. Nur ein Traum. Doch meine Sicherheit hat Sprünge bekommen. Dein Land verändert die Menschen, die es betreten.

      Stumm reichst du mir ein dünnes Band aus Stoff. Leuchtendes Orange, wie die Flammen des Feuers, wie die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Nur ein Zufall, oder hast du meine Gedanken gelesen?

      Ich trete an den Baum heran, greife nach einem der Äste. Atme tief ein. Früher hätte ich mich gefragt, was zum Teufel ich hier tue. Jetzt knote ich das Band sorgfältig fest und konzentriere mich auf meine stille Dankbarkeit. Und auf meinen Wunsch. Dann trete ich zurück und lausche dem feinen Klingen, das in der Luft schwebt.

      Du nimmst meine Hand, und ich schließe meine Finger fest um die deinen. Für die anderen mag ich nur ein Fremder sein, einer, der nicht sehen will und der sich weigert zu glauben. Ich mag so vieles nicht wissen, so vieles nicht verstehen, aber was macht das schon? Ich sehe, dass du hier bist. Dass ich hier bin. Dass wir zusammen sind. Ich glaube an uns. Und ich hoffe – nein, ich weiß - dass du das auch tust.

      Rot:

       Mehr als eine Lieblingsfarbe

      Wie gebannt starre ich auf meine Hände. Schüttele den Kopf, wieder und wieder, will nicht glauben, was ich sehe.

      Nein. Nein. Nein, nein, nein.

      Wie kann ein einzelnes Wort nur so viel Raum einnehmen?

      Meine Hände sinken in den Schoss wie im Flug getroffene Vögel, schwach und kraftlos. Meine Augen fixieren die abgetretenen Steinplatten direkt vor mir. Die Risse, den Schmutz, die Spuren von Moos. Mein Blick will sich heben, weitertaumeln, aber ich halte ihn eisern zurück, während mein Verstand verzweifelt nach einem Halt sucht und diesen schließlich findet. Einen Strohhalm. Eine Erinnerung.

      „Wie ist dein Name?“

      „Vielleicht verrate ich dir den sogar eines Tages.“

      Dein amüsiertes, herausforderndes Lächeln war so erfrischend nach all der geheuchelten Unterwürfigkeit, die mir den ganzen Abend entgegengebracht worden war. Oder besser gesagt, meiner Familie, nicht mir.

      Erst einige Tage zuvor hatte mich mein Vater in sein Büro bestellt, um mir mit kaltem Blick mitzuteilen, dass ich nun lange genug eine Schande für ihn gewesen wäre.

      „Damit ist jetzt Schluss, ein für alle mal. Du bist Teil dieser Familie, also bist du auch Teil des Geschäfts. Ab morgen hörst du auf, dich hinter Büchern zu verstecken, und übernimmst endlich Verantwortung.“

      Wie immer duldete sein Ton keinen Widerspruch, und wie immer dachte ich auch gar nicht daran.

      Ein Teil des Ganzen. Das sagt sich so leicht. Meine Familie ist in viele Geschäfte involviert, doch reich geworden war sie vor allem mit zwei Dingen: Drogen und Prostitution.

      Es überraschte mich kaum, dass man mir das knallharte Kerngeschäft nicht zutraute, doch was mich in ihren Augen für das Rotlichtmilieu qualifizierte, entzieht sich bis heute meiner Kenntnis.

      Mein älterer Bruder empfing mich dann auch nicht gerade mit offenen Armen. Trotzdem bestand er darauf, dass ein solcher Einstieg gewissen Regeln folgen müsse.

      „Lass mal sehen, wie viel Geschäftssinn du wirklich hast.“ Ich hoffte vergeblich, dass er damit die Buchhaltung meinte.

      Zwei oder drei Drinks später fand ich mich in einem kleinen aber wenigstens sauberen Zimmer wieder, zusammen mit dir. Der Mantel landete lässig auf dem Boden, aber als ich versuchte, mein Hemd aufzuknöpfen, wollten mir meine Finger plötzlich nicht mehr gehorchen. Das alles war so unwirklich, eine Halluzination, ein verrückter Traum. Was tat ich überhaupt hier? Und warum?

      Dann standst du auf einmal direkt neben mir, deine Hand auf meiner. Seit der kurzen Begrüßung, die bereits Stunden her zu sein schien, hatten wir kein Wort mehr gewechselt.

      „Du weißt, dass du das nicht tun muss, oder?“

      „Was, wenn doch?“ Kann man drei einfache Worte bereuen, noch bevor man sie ausspricht?

      Ein Stirnrunzeln, ein Zurückweichen.

      „Sag deinem Bruder doch einfach, dass er deinen Geschmack nicht getroffen hat. Dass du ein