Staub und Regenbogensplitter. Stella Delaney. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stella Delaney
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745044904
Скачать книгу
einen Riss in der Eisdecke gefunden, und drang erbarmungslos durch. „Aber zwei Wochen sind auch 14 Tage, 336 Stunden und 20’160 Minuten.“

      „Und glaub mir, ich werde auch jede einzelnen davon zählen.“ Die Genauigkeit der Zahlen verriet Aiden, dass Gabriel es mehrmals durchgerechnet haben musste. Der Gedanke war irgendwie rührend. „Aber ich weiß, dass wir das schaffen werden. Wir beide.”

      Ein winziges Lächeln geisterte über Gabriels Lippen, und er wischte die verräterischen Anzeichen von Tränen mit einer entschlossenen Geste beiseite. Sein Ausdruck besagte, dass jetzt alles ok war, dass Aiden sich keine Sorgen machen musste. Jeder andere wäre darauf hereingefallen, aber Aiden konnte nun hinter die Fassade aus angeblicher Stärke blicken.

      Fast zärtlich griff er nach Gabriels Hand und fühlte die Kälte der schmalen Finger durch den Stoff seiner eigenen Handschuhe.

      „Ich werde zurückkommen.“

      Ein weiteres tapferes Lächeln, aber immer noch überschattet von Zweifel. Ein solches Versprechen musste besiegelt werden, und ein lauter Befehl im Hintergrund teilte Aiden mit, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Ohne lange nachzudenken, nahm er seinen Schal ab und hielt ihn Gabriel entgegen.

      Es war beinahe, als würde ein goldenes Leuchten von der dichten Wolle ausgehen. Wie geblendet von diesem Glanz wich Gabriel zurück und schüttelte den Kopf, als hätte ihm Aiden etwas angeboten, das so wertvoll war, dass er es unmöglich akzeptieren konnte.

      „Mach dir keine Sorgen. In der Armee kriegt man einen neuen, und ich hätte diesen hier sowieso nicht offiziell tragen können.“

      Die Zeit zerschmolz wie Schneeflocken in seinen Fingern, und für einen Moment fürchtete er, Gabriel könnte sich weiterhin weigern. Doch dann trat sein Freund plötzlich näher und ließ zu, dass Aiden den wärmenden gelbgoldenen Schal sorgfältig um seinen Hals wickelte.

      Noch einmal trafen sich ihre Blicke, und Aiden stellte fest, dass die schiere Verzweiflung nun von einer ruhigen Zuversicht ersetzt worden war. Das Gesicht eines Kindes, aber der wissende Ausdruck eines Erwachsenen.

      „Du weißt, was das heißt, oder?“

      „Das ist nicht möchte, dass du dich zu Tode frierst?“

      „Nein, du Idiot.“ Gabriel sah ihn an, der Ausdruck todernst. „Es ist eine Abmachung mit dem Schicksal. Ein Handel. Jetzt musst du zurückkommen, damit ich dir deinen Schal wiedergeben kann.“

      „Das soll ein Grund sein?“ Aiden schüttelte den Kopf, bevor er hinzufügte: „Glaubst du wirklich, dass ich dich einfach alleine lasse? Die Chance, dass das je passiert, ist die einer Schneeflocke in der Hölle – verzeih das offensichtliche Wortspiel.“ Ein weiteres Lächeln fand seinen Weg auf Gabriels Gesicht, und ermutigt fuhr Aiden fort: „Ich kann nicht immer an deiner Seite sein, aber ich bin immer für dich da. Das hab ich dir versprochen. Und deshalb werde ich auch zurückkommen. Deinetwegen. Du bist schließlich viel wichtiger als irgendein Schal.”

      „Vielleicht … ein ganz kleines bisschen zumindest.“

      Da war das Lachen wieder, das Aiden so sehr vermisst hatte. Und obwohl er gerade seinen Schal weggegeben hatte, fühlte er die Kälte nicht mehr.

      *

      Als der Lastwagen abfuhr, sah Gabriel ihm nach, eine Hand auf den goldgelben Schal gelegt wie ein stilles Versprechen. So stand er, bis die Lichter des Wagens vom Schnee verschluckt worden waren.

      Orange: Durch den Nebel

      „Es begab sich, dass einst vor vielen Jahren ein junger Mann in unser Dorf kam. Ein Fremder, von weit her. Sprühend vor Leben, vor Ungeduld. Als er eintraf, brach gerade die Dunkelheit herein, und so verbrachte er die Nacht in unserer Mitte. Er wärmte sich an unserem Feuer, trank unseren Wein und lauschte unseren Geschichten.

      Am nächsten Morgen wollte er aufbrechen. Er müsse weiter nach Norden, so schnell wie möglich. Doch wir sahen den Nebel um unser Dorf heraufziehen, und hielten ihn zurück. Luden ihn ein, noch ein paar Stunden bei uns zu bleiben, oder eine weitere Nacht. Warnten ihn. Flehten ihn an. Doch seine Ohren waren taub, seine Augen blind, sein Herz wie aus Stein. So sind die Fremden. Sie können nicht sehen, sie wollen nicht sehen. Und sie weigern sich zu glauben.“

      *

      Ich mag blind gewesen sein, als ich zum ersten Mal einen Fuß auf dieses Land setzte. Aber dann habe ich schnell verstanden, dass hier vieles anders ist. Die Sprache. Die Menschen. Und ganz besonders die Wälder. Die Bäume wachsen nicht einfach gerade in den Himmel, sie verbinden sich und formen dichte dunkle Hallen, die riesigen Tempeln gleichen, heiligen Stätten für fremde Götter. Die Gesetze der Natur scheinen hier nicht zu gelten, sogar die Zeit verläuft außerhalb der üblichen Bahnen, wenn man diese Heiligtümer durchquert.

      Doch sind fremde Welten nicht letztlich dazu da, erobert zu werden? Bin ich nicht aus genau diesem Grund hier? Um allen zu beweisen, dass es sehr viel mehr braucht, um mich davon abzuhalten? Sicherlich mehr als die Kindergeschichten, die der Dorfälteste letzte Nacht im Schein des Feuers zum Besten gegeben hat. Wie du ihn dabei angesehen hast. Mit weit offenen Augen, voller Ehrfurcht, voller Bewunderung.

      „Der Nebel ist der Schleier, den die Göttin trägt. Ein Schleier zwischen den Welten. Er ist alt, der Nebel, älter als die Bäume, älter als die Felsen. Er schwebte bereits über allem, als die Welt noch ihre Form annahm. Man muss ihm mit Ehrfurcht begegnen, wie der Göttin selbst. Sie duldet keinen Hochmut.

      Doch unsere Worte verhallten ungehört. Der Fremde lachte nur, und trat hinaus in den Nebel. Wir sahen ihn nie wieder. Aber wir hörten Geräusche hinter dem grauen Schleier. Unsägliche Geräusche.“

      An dieser Stelle habe ich laut aufgelacht. Vielleicht ein bisschen zu verächtlich. Die Blicke der anderen sind mir egal gewesen, aber deiner hat sich mir in die Seele gebrannt. Dieses Land, dein Land, ist wie du. Anders. Wunderschön. Und stolz.

      Es ist schon immer einfacher gewesen, ein Land zu erobern als die Herzen seiner Bewohner. Doch ich habe mich entschieden. Nun liegt das Dorf bereits weit hinter mir, und ich folge dem ausgetretenen Pfad, immer tiefer in den Wald.

      Der Nebel umfängt mich wie eine weiche Decke, wie eine Umarmung. Legt sich wie ein Umhang um meine Schultern. Ein magischer Umhang, der meinen Blick trübt, aber gleichzeitig meine Sinne schärft. Was für ein kindischer Gedanke. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht.

      Es ist so still hier draußen. Mein einziger Begleiter ist das Rascheln der toten Blätter unter meinen Füssen, gleichmäßig, wie der Rhythmus meiner Schritte. Doch selbst dieser Klang scheint unwirklich, als würde der Nebel ihn dämpfen. Oder ersticken.

      Natürlich könnte ich mich jederzeit einfach umdrehen, und –

      Mein Blick fliegt über meine Schulter wie der eines aufgeschreckten Rehs. Das Dorf hinter mir ist längst verschwunden, verschluckt vom Nebel. Aber das macht nichts. Das macht gar nichts. Ich muss doch einfach nur den Weg zurückgehen, den ich gekommen bin. Nichts einfacher als das. Ein kleines Kind würde es schaffen.

      Gegen meinen Willen werden meine Schritte schneller und schneller.

      „Der Nebel ist ein Schleier, den die Göttin trägt.“

      Ein Schleier? Eher ein Leichentuch. Dein Volk glaubt auch an Dinge, die im Nebel wandeln. Jagen. Namenlose, unvorstellbare Dinge. In der Sicherheit der Hütte, im warmen Feuerschein, ist es so leicht gewesen, über diese Dinge zu lachen.

      Und wieder sehe ich dein Gesicht vor mir. Deine Augen, in einem Moment erfüllt vom gold-orangen Lodern der Flammen, als wären sie deren Ursprung und nicht deren Spiegel, im nächsten hart und kalt wie Glas. Oder wie Edelsteine im Antlitz eines Götterbildes.

      Ein klagender Schrei zerreißt die Stille. Was war das? Und vor allem, wo war es?

      „Wir hörten Geräusche aus dem Nebel an diesem Tag. Eines davon klang wie ein Wolf, und doch klang es anders.“

      Mein Atem geht schwer. Der Nebel presst sich gegen mein Gesicht wie nasses Leinen. Er scheint noch dichter geworden