Ohne Nourillys Formulare wären die letzten Wochen durchaus angenehm gewesen. Anaïk war gerade dabei, die Anzahl der Stunden zu schätzen, die sie mit den Fahrten zu ihren Einsatzorten verbracht hatten, als Monique ins Büro trat.
„Anaïk, wir haben einen Anruf von der Gendarmerie aus Trégunc erhalten. Der Gendarm, Dinan Le Coc, hat uns informiert, dass am Strand von Pendruc eine Jeans gefunden worden ist. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann könnte es die Jeans des verschwundenen Mädchens, Sema Le Guiffant, sein.“
Anaïk ließ den Kugelschreiber auf die Tischplatte fallen und sah Monique entgeistert an.
„Die Jeans des Mädchens Sema am Strand von Pendruc? Ist sie angeschwemmt worden?“
„Das kann ich dir nicht sagen, ich habe den Polizisten nicht danach gefragt. Monsieur Le Coc hat mir die genaue Lage des Fundortes beschrieben, wir können uns selbst ein Bild machen.“
„Dann nichts wie hin, ich freue mich über jede Abwechslung. Diese Formulare bringen mich noch um den Verstand. Ich hoffe, dass Nourilly irgendwann die Ideen zu neuen Formularen ausgehen.“ Sie verließen das Kommissariat.
Die voie express war heute Tag schwach befahren, sodass sie die Ausfahrt von Concarneau schnell erreicht hatten. Sie fuhren in Richtung des kreiz-kêr, dem Stadtzentrum, und überquerten den Moros. Monique mochte den Blick von der Brücke über den Moros, der eine herrliche Sicht auf die Altstadt von Concarneau mit ihren hohen Mauern, den sie umgebenden Hafen, das Trockendock der Firma Piriou und auf das offene Meer mit den vielen Segelbooten bot. Sie folgten der Straße weiter, passierten zwei weitere Kreisverkehre, überquerten die Anse de Minaouët und nahmen Direktion auf Lambell. Ihr Navi zeigte, dass sie jetzt auf Pendruc zufuhren, einem Ortsteil der Gemeinde Trégunc. Am Ende der Straße sahen sie den Wagen der Gendarmerie stehen. Der Beamte hatte die Kommissarinnen erwartet, begrüßte sie und wollte ihnen sofort den Weg zur Fundstelle der Hose zeigen.
„Wir ziehen uns noch unsere Gummistiefel an“, sagte Anaïk. Dann folgten sie dem Gendarmen.
„Wir müssen einige Meter zu Fuß gehen, mit dem Fahrzeug kann man nicht näher ranfahren“, sagte er und ging zügig zum sentier côtier. Der schmale Fußweg führte an den Felsformationen der Küste vorbei, die die Strände von Pendruc und Pouldohan trennten. Am Ende des schmalen Weges blieb der Gendarm an einem steinernen Obelisken stehen und machte Anaïk auf einen Felsen weiter draußen aufmerksam.
„Sehen Sie dort den Felsbrocken, sieht er nicht wie ein großes umgedrehtes Herz aus?“
„Stimmt“, meinte Anaïk, die das auf dem Kopf stehende große Herz erkannte.
„Genau unter dem Felsen ist die Hose gefunden worden. Es gibt Bewohner in der Gegend, die dem Felsen den Namen das kalte Herz von Concarneau gegeben haben, obwohl der Felsen auf der Gemarkung von Trégunc liegt. Vielleicht wollen die Einwohner von Pendruc nichts mit einem kalten Herzen zu tun haben und haben ihn deshalb Concarneau zugeschrieben.“
Anaïk und Monique stiegen über die Natursteinmauer, die den Fußweg von den Felsen trennte, und stiegen über die wirr herumliegenden Felsbrocken zum kalten Herzen.
Ein Kollege von Le Coc hatte das Gebiet abgesperrt. Jetzt hob der Gendarm die Absperrung hoch und ließ die beiden Frauen passieren.
„Claude Huet, mein Kollege“, stellte Le Coc den Gendarmen vor.
„Bonjour, Monsieur Huet“, sagte Monique, nachdem sie unter dem Band durchgegangen war.
„Haben Sie irgendetwas verändert?“, fragte Anaïk Monsieur Le Coc.
„Nein, die Hose liegt so, wie wir sie gefunden haben. Genauer gesagt, haben nicht wir die Hose gefunden, sondern der Herr dort drüben. Er hat uns informiert. Sein Name ist Koreg Férec, er wohnt in Pendruc und geht täglich hier spazieren, sucht nach Muscheln und anderen Schätzen.“
„Ich werde mich mit ihm unterhalten, Anaïk“, sagte Monique und ging zu dem Mann.
Anaïk betrachtete die Jeans. Die Hose war nicht angeschwemmt worden. Sie lag direkt unter dem Herzstein und war mit einem schweren Steinbrocken beschwert. Der Stein war in die Hose geschoben worden. Über der Hose lagen Algen und Tang. Die ist nicht erst nach der letzten Flut hier deponiert worden, sie liegt mindestens schon eine Nacht lang an dieser Stelle. Eine Spurensuche ist nicht mehr sehr ergiebig. Das salzhaltige Wasser hätte alle Spuren weggespült. Anaïk zog sich Handschuhe an und griff nach dem Stein, der die Hose hier zwischen den anderen Felsen gehalten hatte. Er war schwer.
„Können Sie mir bitte helfen“, wandte sie sich an den Gendarmen Le Coc neben sich.
„Heben Sie bitte den Stein heraus, aber nicht mit der Hand berühren. Haben Sie Handschuhe?“
Der Gendarm schüttelte den Kopf.
„Hier, nehmen Sie die.“ Anaïk reichte ihm ein Paar aus ihrer Handtasche. Der Gendarm hob den Stein aus der Hose. Der Stein war auch für Le Coc schwer.
„Wir tüten ihn ein und nehmen ihn mit ins Labor. Ich glaube zwar nicht, dass wir etwas Brauchbares daran finden, aber sicher ist sicher.“
Anaïk sah sich die Jeans an. Wie war der Gendarm darauf gekommen, dass die Hose Sema Le Guiffant gehörte? Dann entdeckte sie das eingenähte Namensetikett, Sema Le Guiffant. Vielleicht war die Hose einmal mit in eine colonie de vacances gereist. Anaïk steckte auch die Hose in eine Plastiktüte. Warum ist die Jeans hier deponiert worden? Angeschwemmt worden ist sie nicht. Sollte die Hose an dieser Stelle gefunden werden? Warum? Warum diese verschiedenen Hinweise in Abständen? Sie würde der Sache nachgehen. Ob mit oder ohne Leiche, sie ging von einem Verbrechen aus, und dieses Verbrechen spielte sich zum Teil in ihrem Zuständigkeitsbereich ab. Sie würde mit den Kollegen in Nantes Kontakt aufnehmen und sich auf den neuesten Stand bringen lassen.
Monique Dupont hatte sich in der Zwischenzeit um den Mann gekümmert, der die Jeans gefunden hatte.
„Bonjour Monsieur, mein Name ist Monique Dupont, ich bin von der police judiciaire in Quimper. Ich habe gehört, dass Sie die Hose drüben am Felsen gefunden haben. Monique zeigte auf den Felsbrocken.
„Bonjour, Madame, mein Name ist Koreg Férec. Ich wohne hier in Pendruc und gehe regelmäßig am Strand spazieren. Heute wollte ich Palourdes suchen, schließlich hatten wir gestern grande marée.“
Das hatte Monique jetzt schon gelernt, sie kannte den Unterschied zwischen der normalen Flut und den grande marée, den Springfluten, die regelmäßig bei Neu- und Vollmond wiederkehren.
„Erzählen Sie mir bitte, Monsieur Férec, wie Sie die Hose gefunden haben“, forderte sie den Mann auf.
„Madame la Commissaire, da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin zu den Felsen gegangen, weil dahinter eine Sandbank ist, an der ich beim letzten Mal viele Palourdes gefunden habe. Ich wollte gerade über die Felsen zum Sand runtersteigen, da ist mir die Jeans aufgefallen. Die Hose ist mit einem schweren Stein zwischen die anderen Felsbrocken geklemmt gewesen. Ich habe mir die Hose ein bisschen angeguckt und das kleine Namensschild gesehen. Wir haben solche Etiketten in die Kleider meiner Mutter einnähen müssen, als sie ins Altersheim gekommen ist, damit man die Sachen nach der Reinigung oder Wäscherei sofort der richtigen Person zuordnen kann. Der Name Le Guiffant gehört zu der verschwundenen Familie aus Nantes, das habe ich im Ouest-France verfolgt, und dass man den Personalausweis von dem Mädchen in Fouesnant gefunden hat. Also habe ich sofort die Gendarmerie in Trégunc angerufen.“
„Haben Sie an den Tagen zuvor hier jemanden gesehen, der sich auffällig benommen hat?“
„Vorgestern ist mir ein Mann aufgefallen, den ich hier noch nie gesehen habe. Das hat natürlich nicht viel zu bedeuten, es gibt hier viele Touristen. Aber der Mann ist mir aufgefallen, weil er lange mit einem Fernglas auf die Felsen geschaut hat. Zuerst habe ich gedacht, dass er den Möwen zuguckt. Aber es waren keine Möwen da, und er hat immer nur auf die Felsen geguckt.“
„Können Sie den Mann beschreiben?“
„Nein,