„Dieser Frage sind die Kollegen in Nantes wohl auch nachgegangen, so habe ich in der Zeitung gelesen. Monique, wenn du aus dem Land verschwinden willst, dann brauchst du doch zumindest deinen Ausweis, ohne Ausweispapiere wird es schwer, in einem anderen europäischen Land neue Papiere zu erhalten. Und wer wandert aus, ohne irgendwelche Kleidungsstücke mitzunehmen?“
„Vielleicht hat das Mädchen den Ausweis ja tatsächlich verloren“, sinnierte Monique.
„Das würde bedeuten, dass das Mädchen heute Morgen beim Manoir Le Stang gewesen sein muss“, sagte Anaïk und sah auf die Pinnwand.
„Und jemand hat ihn dort weggeworfen?“
„Das ist die Frage. Wenn der Ausweis nicht verloren worden ist, und es spricht noch etwas dagegen, dann muss er dort weggeworfen worden sein.“
„Was spricht noch dagegen, dass er verloren worden ist, Anaïk?“
„Das Schulheft des Vaters! Die meisten Menschen tragen ihren Ausweis im Portemonnaie. Ein altes Schulheft trägt niemand mit sich.“
„Ja, Anaïk. Es ergibt keinen Sinn, den Ausweis und ein Schulheft gleichzeitig zu verlieren. Wir können folglich davon ausgehen, dass die beiden Gegenstände absichtlich dort hingelegt worden sind.“
„So sehe ich es, Monique. Die Frage bleibt, von wem?“
„Dann halten wir ein Verbrechen für wahrscheinlich?“
„Ein Verbrechen oder bewusste Irreführung. Aber wer führt die Polizei in die Irre und warum?“
„Kann da jemand Amok gelaufen sein und will die Tat verschleiern?“
„Soweit möchte ich jetzt nicht gehen, aber seltsam ist die Sache schon. Da wir keine Leiche und somit keinen Mord haben, können wir folglich auch nicht ermitteln. Wir müssen diesen Fall von der Vermisstenstelle bearbeiten lassen. Wir teilen den Kollegen in Nantes die Information über den Fund mit und überlassen denen das weitere Vorgehen.“
„Schade, das wäre einmal etwas Abwechslung gewesen.“
Kapitel 6
Marc Solliecs Maschine von Quimper nach Paris würde in sechs Stunden gehen. In Paris hatte er den Weiterflug auf die Réunion. Er würde wieder für zwei Monate das Kommando auf seinem Schiff übernehmen.
Marc hatte sich über seine Mutter geärgert, sie hatte ihn bei seinem Hochzeitstermin nicht unterstützt. Loana hatte er noch zweimal besucht und sich vor zwei Tagen von ihr verabschiedet. Loana war distanzierter gewesen. Er schob es auf den kleinen Disput über den Hochzeitstermin und die entsprechenden Feierlichkeiten, denen er keine große Bedeutung beimaß, die aber für Loana wichtig zu sein schienen.
Simone würde sich während seiner Abwesenheit wie immer um sein Haus kümmern. Den Garten hinterließ er in perfektem Zustand. Der Rasen war gemäht, die zahlreichen Hecken geschnitten, und das Heidekraut rund um seinen kleinen See begann zu blühen. Sein See war ein wahrer Roz L´och, Heidebucht und Rosenteich. Marc hatte in den letzten Wochen noch verschiedene edle Rosen rund um den See gepflanzt.
Bevor Marc sich auf den Weg zum Flughafen machte, verabschiedete er sich noch von seiner Mutter. Er verstaute sein Gepäck in den Wagen, verschloss das Haus und fuhr nach Trégunc.
Seine Mutter erwartete ihn bereits. Sie hatte ihm ein zweites Frühstück vorbereitet, und Marc ließ es sich schmecken.
„Hast du noch einmal mit Loana gesprochen?“, fragte Simone ihren Sohn.
„Wegen der Hochzeit?“
„Natürlich wegen der Hochzeit. Loana ist eine nette Frau, du musst ein bisschen auf ihre Wünsche eingehen, du brauchst einen Menschen an deiner Seite“, insistierte Simone.
„Ich habe doch dich, Mutter“, erwiderte Marc und genoss sein Stück Baguette.
„Ich werde nicht ewig leben, ich bin beinahe 70 Jahre alt!“
„Papperlapapp, du bist gesund wie ein Fisch im Wasser, Mutter“, meinte Marc und nahm einen kräftigen Schluck von dem Rotwein, den seine Mutter auf den Tisch gestellt hatte.
Marc hatte bis jetzt immer Glück gehabt, er war nie in eine Kontrolle der Gendarmerie geraten. Sein Alkoholspiegel hätte bestimmt oft deutlich über den erlaubten 0,5 ‰ gelegen. Er verbrachte noch eine Stunde bei seiner Mutter, erzählte ihr von seiner bevorstehenden Arbeit im Indischen Ozean, und machte sich dann auf den Weg zum Flughafen nach Quimper.
Der Flughafen lag auf dem Gebiet der Gemeinde Pluguffan, südwestlich der Stadt Quimper, direkt an der voie express nach Pont-l´Abbé. Nach etwas mehr als einer halben Stunde hatte er den Langzeitparkplatz des Flughafens erreicht. Er stellte seinen Wagen ab und checkte ein. Er gab sein Gepäck auf, kaufte eine Tageszeitung und setzte sich in die Lounge. Die Überschrift im Ouest-France stach ihm sofort in die Augen.
Mysteriöser Fund in Fouesnant
Personalausweis des verschwundenen Mädchens gefunden! Ein Verbrechen wahrscheinlich?
Marc hatte die Berichte über die verschwundene Familie in den letzten Wochen genau verfolgt. Eine ganze Familie war verschwunden, einfach so untergetaucht. Für Marc stand fest, dass die Familie ausgewandert war. Bestimmt hatten sie sich heimlich auf den Weg nach Australien oder Neuseeland gemacht. Vielleicht waren sie total überschuldet und wollten ihren Gläubigern entkommen, wahrscheinlich drehte es sich um Geld. Geld und Ansehen waren ja auch wichtig im Leben, wenigstens für Marc Solliec. Er las den Artikel aufmerksam. Ein Spaziergänger hatte den Ausweis des Mädchens beim Manoir Le Stang, in der Nähe von Forêt-Fouesnant, gefunden, sowie ein altes Schulheft des Vaters. Die Polizei, so stand in dem Bericht, wusste noch nicht, ob es sich um ein Verbrechen handelte.
„In Fouesnant? wie kommt der Ausweis nach Fouesnant“, murmelte Marc vor sich hin. Der Fund in Fouesnant passte nicht zu seinen Vorurteilen. Eine Flucht aus Frankreich läuft sicher nicht über Fouesnant. Pluguffan, das hätte er sich noch vorstellen können. Wenn jemand aus dem Land verschwinden will, dann wählt er vielleicht den Flughafen. Aber Fouesnant? Dort gab es weder einen Flughafen noch ein Hafen, der groß genug für entsprechende Passagierschiffe war, nicht einmal einen Bahnhof gab es dort. Warum also Fouesnant? Er würde im Flugzeug darüber nachdenken können. Marc faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in seine Bordtasche. Sein Boarding begann.
Kapitel 7
Zwei Monate waren inzwischen seit dem Auffinden des Personalausweises von Sema Le Guiffant vergangen. Anaïk Bruel dachte immer wieder einmal an diese Nachricht, obwohl der Fall sie eigentlich nichts anging. Sie hatte in den zurückliegenden Wochen gelesen, dass eine Schwester der verschwundenen Familie mit ihrem Mann im Finistère einen landwirtschaftlichen Betrieb führt.
Der Hof der Familie Bourret lag in der Nähe von Pont-Croix. Die Polizei von Nantes hatte den Bourrets in den ersten Tagen nach dem Verschwinden der Familie Le Guiffant einen Besuch abgestattet und nach näheren Informationen gesucht. Die Spurensicherung hatte im Haus der Familie Le Guiffant die DNA von Monsieur Bourret gefunden. Der Schwager, Monsieur Dunvel Bourret, hatte erzählt, dass Jules Le Guiffant ihm gegenüber einige Male von einem Plan gesprochen hat, eine Schafzucht in Australien aufbauen zu wollen. Da er aber zu wenig Ahnung von der Schafzucht hatte, hatte er den Plan wieder verworfen. Seine DNA im Haus der Familie Le Guiffant hatte er mit seinen Aufenthalten bei seinem Schwager begründet.
Die Bourrets lebten von ihrem kleinen Hof. Sie hatten sich auf den Anbau von Bio-Produkten spezialisiert und verkauften ihre Erzeugnisse auf den Märkten von Audierne, Pont-l´Abbé und Quimper.
Pont-Croix lag so weit von Fouesnant entfernt,