Der Shaolin. Karl-Heinz Jonas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Jonas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742736345
Скачать книгу
Trotzdem verging noch eine ganze Reihe von Tagen, bis er sich in die Nähe des Zieles seiner Träume wagte.

      Jiao hatte sich an den ersten Tagen nach dem schrecklichen Erlebnis wie verabredet ausschließlich im Haus aufgehalten. Da sie sonst den weitaus größten Teil des Tages im Garten zugebracht hatte, fühlte sie sich eingesperrt. Doch ihre Gedanken ließen sich nicht einsperren! Immer wieder wanderten sie zu dem jungen Mönch, den sie kaum kannte und der ihr doch so vertraut schien.

      Als sie sich endlich wieder in den geliebten Garten wagen durfte, war sie zwar sehr erleichtert, doch glücklich war sie nicht. Sie war von einer seltsamen Sehnsucht ergriffen, die ihr keine Ruhe ließ. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihr Blick in die Richtung wanderte, in der sie das Kloster wusste.

      „Jiao ist im Garten“, sagte die Mutter, nachdem Li Ning im Wohnraum einige Zeit mit ihr geplaudert hatte. „Sie wird sich sicher freuen, ihren Retter zu sehen. Kommt, ich begleite Euch hinaus. Ihr müsst wissen, Jiao verbringt die meiste Zeit bei ihren Blumen.“

      Li Ning hatte heute allerdings kein Auge für die Blumen. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Jiao ließ sein Herz bis zum Hals schlagen, und als er sie dann endlich erblickte, raste es geradezu. Er konnte nur hoffen, dass keine der beiden Frauen etwas davon bemerkte.

      Dass es Jiao nicht anders erging, konnte er nicht ahnen.

      Da beide sehr darum bemüht waren, ihre Gefühle zu verbergen, war die Mutter bei dem nun folgenden Plauderstündchen Alleinunterhalterin. Das störte diese jedoch in keinster Weise, war sie doch froh, ihrem Mitteilungsbedürfnis einmal ungehindert freien Lauf lassen zu können.

      Jiao und Li Ning beschränkten sich darauf, ab und zu einen heimlichen Blick auf den anderen zu werfen. Um so mehr erschraken beide, als sich ihre Blicke einmal trafen. Obwohl dieser Blick nur einen Lidschlag währte, war er immerhin lange genug, beiden die Hoffnung zu geben, dass die eigenen Empfindungen erwidert werden. Aus Angst, sich vielleicht getäuscht zu haben, vermieden sie nun gegenseitige Blicke. Stattdessen beteiligten sie sich jetzt ebenfalls an dem Gespräch.

      Jiaos Mutter machte sich weder über die anfängliche Schweigsamkeit der beiden Gedanken, noch über deren plötzliche Beredsamkeit. Wie hätte sie denn auch ahnen können, was in den beiden vorging. War doch Jiao in ihren Augen noch ein Kind, und der junge Mann war schließlich ein Mönch!

      Der Nachmittag verging viel zu schnell, und Li Ning musste sich viel zu früh verabschieden. Doch er musste vor Anbruch der Dunkelheit das Kloster erreichen.

      Von nun an besuchte Li Ning die Familie Ling regelmäßig, jedoch nicht so häufig, dass es aufdringlich wirkte.

      Für Jiaos Mutter waren diese Besuche eine willkommene Abwechslung, für die beiden Liebenden die Erfüllung ihrer sehnsüchtigsten Träume.

      Eines Tages öffnete auf Li Nings Klopfen niemand. Enttäuscht wollte er sich schon entfernen, als Jiao um das Haus gelaufen kam. „Also habe ich mich doch nicht geirrt“, rief sie erfreut. „Kommt, wir gehen in den Garten.“

      „Eure Mutter ist nicht zu Hause?“

      „Nein, sie ist in der Stadt, bei Bekannten.“

      Li Ning folgte Jiao hinter das Haus in den Garten. Sie setzten sich ins Gras, direkt neben einem der wunderschönen Blumenbeete.

      Es war für beide eine völlig neue Situation, allein zusammen zu sein. Erst nach längerem schüchternen Schweigen unterbrach Li Ning die Stille, und sie unterhielten sich über belanglose Dinge, obwohl sie sich doch so unendlich Wichtiges zu sagen hatten!

      Sie saßen ziemlich nah beieinander, viel näher, als es sich für die beiden gehörte.

      Jiaos Haar duftete verführerisch, und zusammen mit den vielfältigen Düften der Blumen und Gräser war die Wirkung auf den jungen Mönch betörend. Vorsichtig tastete seine Hand nach der ihren, und sie ließ sein zärtliches Streicheln zu. Er schaute ihr in die leuchtenden braunen Augen, fühlte ihr Verlangen, und er wusste sich nicht länger zu beherrschen.

      „Jiao“, flüsterte er.

      „Li Ning.“

      „Jiao, Jiao.“

      Sie fielen einander in die Arme…

      Aus vielen Träumen gibt es ein schreckliches Erwachen, doch weder Jiao noch Li Ning konnten ahnen, welch unsägliches Leid gerade ihr Traum nach sich ziehen sollte!

      Als Li Ning sich verabschiedete, tat er dies mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits war er unendlich glücklich, andererseits überkam ihn große Angst vor der Zukunft. Er wusste, dass ihn sein Gelübde an das Kloster band und nichts auf der Welt dieses Gelübde rückgängig machen konnte!

      Noch weit mehr sorgte er sich um Jiao. Was sollte aus ihr werden, wenn jemand das Geschehene erführe? Eine Frau durfte nur mit ihrem Ehemann intim sein – und dieser würde er niemals sein können!

      Die Verantwortung lag allein bei ihm. Durch seine Unbeherrschtheit hatten sie sich eines der schlimmsten Vergehen schuldig gemacht. Niemand durfte jemals davon erfahren; ihre Liebe musste für immer ein Geheimnis bleiben!

      Je mehr er sich dem Kloster näherte, desto mehr plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Wie sollte er nur seinen Brüdern unter die Augen treten?

      Zum Glück begegnete ihm im Hof kaum jemand, und den wenigen schien nichts aufzufallen. Er glaubte schon, niemand würde etwas bemerken, da begegnete ihm der Meister. Ein Ausweichen war unmöglich, und gerade den Meister würde er nicht täuschen können! Keiner kannte ihn so gut wie Meister Shu, und niemand konnte den Menschen ihre Gedanken so sicher von den Augen ablesen wie er. Li Ning wusste, dass sein Blick für den Meister wie ein offenes Buch war. Vor Scham schlug er die Augen nieder.

      Meister Shu verriet jedoch mit keinem Wort, keiner Geste, sein Wissen über Li Nings schlechtes Gewissen.

      An den nächsten Tagen verhielt sich Li Ning äußerlich völlig normal. Seine Brüder schienen nichts gemerkt zu haben, und der Meister tat weiterhin, als sei nichts geschehen.

      Li Ning wagte selbstverständlich nicht, die Besuche bei der Familie Ling fortzusetzen, das konnte er Jiao unmöglich antun. Und wenn er sie schon nicht glücklich machen konnte, musste er versuchen, sie zu vergessen!

      Beim Training gelang ihm das wenigstens teilweise. Doch spätestens abends, wenn er allein in seiner Kammer war, kehrte die Erinnerung zurück. Die Sehnsucht nach Jiao und sein schlechtes Gewissen führten in seinem Inneren einen aussichtlosen Kampf.

      L Ning wusste sich irgendwann nicht mehr zu helfen und beschloss, sich dem Meister anzuvertrauen. Er war sich durchaus bewusst, welche Konsequenzen daraus für ihn erwachsen konnten. Er lief Gefahr, in Schande aus dem Kloster ausgestoßen zu werden, was praktisch seinen Tod bedeutet hätte. Ein ausgestoßener Mönch war ein Mann, der seine Ehre verloren hatte und zwangsläufig dazu verurteilt, sich das Leben zu nehmen. Doch alles wäre Li Ning lieber gewesen als der jetzige, unerträgliche Zustand.

      Eines Abends, als er den Meister im Garten bemerkte, suchte er, wie zufällig, dessen Nähe.

      „Bruder Ning“, sprach der Meister seinen Lieblingsschüler an. „Du möchtest etwas Wichtiges mit mir besprechen?“

      „Ja, Meister. Es ist mir nicht möglich, mein schändliches Verhalten länger für mich zu behalten.“ Wie sollte er es dem Meister nur sagen? Doch dann sprudelten die Worte nur so aus seinem Mund: „Meister, ich habe unserem Kloster große Schande bereitet.“ Schamrot, mit gesenktem Kopf, beichtete er sein Vergehen.

      Lange währte das Schweigen des Meisters, sehr lange. Zu ungeheuerlich musste die Tat in seinen Augen sein.

      Li Ning fürchtete das Allerschlimmste.

      „Nun, Bruder Ning“, begann Meister Shu endlich. „Auch ich war einmal jung. Auch ich habe hübsche Mädchen kennen gelernt, und auch ich habe sie begehrt. Doch dass du dich so weit vergessen konntest, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich muss dir sicher nicht sagen, dass ich sehr enttäuscht bin. Du bist dir der möglichen Folgen deiner Tat